Gedanken

Der Baum

 

 

Vielleicht glaubst du auch, dass Bäume immer nur auf dem gleichen Fleck stehen und sich nie, nie bewegen? Tun sie aber doch, nur können es die meisten Menschen nicht sehen, weil sie sich nicht die Mühe machen, es einfach nicht glauben oder lieber Fernsehen gucken. Viele Bäume sehen sich ja auch so doof ähnlich, dass man gar nicht merkt, wenn sie plötzlich an einem anderen Ort stehen. Und weil sie immer nur nachts auf Wanderschaft gehen, kriegst du das auch nicht richtig mit, denn du schläfst dann ja hoffentlich schon in deinem Kuschelbett. Aber wenn du von hier aus in Richtung Sonnenaufgang gehst -ungefähr so weit, wie du in zwei Tagen laufen kannst- findest du einen Baum, der mir diese Geschichte erzählt hat. Er hat sie selbst erlebt und wir können sie ihm glauben.
     „Weißt du“, erzählte mir der Baum, als ich mich einmal unter ihm ausruhte, „früher bin ich viel gewandert. Auch am Tag. Damals wussten die Menschen noch, dass wir das können, weil sie nicht so viel mit sich selbst zu tun hatten und nicht immer nur vor dem Fernseher oder dem Computer saßen. Als ich jung war, hatte ich noch ziemlich kleine Wurzeln, die sich nirgendwo tief in die Erde eingraben konnten. Meine Rinde war noch ganz glatt und meine Äste noch ziemlich kurz, so dass sich nichts für längere Zeit darin verhaken konnte.“
     Der Baum holte tief Luft, wobei seine Blätter raschelten.
    „Oft kamen mir andere Bäume entgegen“, fuhr er fort, „und wenn sie nah genug an mir vorüber kamen, haben sich unsere Zweige kurz gestreift. Manchmal verfingen sie sich aber auch mit ihren Ästen in meinen Blättern. Wenn ich schnell weiter wandern wollte, habe ich mich losgerissen, was dem anderen Baum meist mehr weh tat als mir selbst. Du kennst das sicher von einem Pflaster: wenn du es dir selbst abpieselst, ist der Schmerz nicht so groß, als wenn es jemand Anderes macht. Es kam aber auch vor, dass der andere Baum sich wieder entfernen wollte, obwohl ich es gut gefunden hätte, wenn unsere Zweige noch ein wenig länger verhakt gewesen wären. Da tat mir dann der ganze Stamm weh und die Rinde bekam tiefe Risse.“
     Ja, das erzählte mir der Baum. Ab und zu hatte ich sogar den Eindruck, als würde er sich bei seiner Geschichte ein bisschen zu mir runterbeugen, damit ich ihn durch das mächtige Rauschen seiner Blätter besser verstehen konnte.
    „Heute sind meine Zweige durch das viele Ziehen lang geworden, was unbestreitbar den Vorteil hat, dass darauf viele grüne Blätter Platz haben“, lachte er. „Viel mehr als früher, als ich noch jung und ständig unterwegs war. Manchmal bin ich so schnell gelaufen, dass dadurch alle Blätter abgerissen wurden. Und auch durch das häufige Losreißen von den anderen Bäumen habe ich viele von ihnen verloren. Aber Gott sei Dank wachsen sie bei uns Pflanzen ja immer wieder nach“, kicherte er hoch oben in seiner Krone.
    „Wolltest du denn nie mal ausruhen und dich irgendwo festsetzen? Deine Wurzeln in den Boden graben und nicht mehr immer nur rumlaufen?“, fragte ich.
    „Hmmm“, murmelte er und seine Stimme kam jetzt direkt aus dem Stamm, an den ich meinen Kopf gelehnt hatte. „Natürlich wollte ich das. Sogar schon ein paar Mal! Da hatte ich mich ganz fest mit einem anderen Baum verschlungen und konnte gar nicht mehr weglaufen. Dann aber wurde die Umklammerung so stark, dass mir die Äste drohten abzusterben und meine Zweige wurden nicht mehr grün. Dafür färbten sich die alten Blätter braun und fielen schließlich zu Boden. Wenn ich überleben wollte, blieb mir nichts anderes übrig, als mich von dem anderen Baum zu lösen, der mir das Grün nahm.“ Seine rissige Rinde knackte und hörte sich an, als wäre er gerade etwas böse geworden in seiner Erinnerung.
    „Dabei muss das gar nicht sein“, rauschte er. „Es ist nämlich ein himmelweiter Unterschied, ob man sich umklammert oder umarmt. Wenn man seine Äste so fest um die des Anderen schlingt, dass diese absterben, kann man sich nämlich nicht mehr gegenseitig mit den Blättern streicheln und zuwedeln. Und das ist doch viel schöner und wichtiger, oder?“
    „Und? Würdest du dich noch einmal so umklammern lassen?“, wollte ich von ihm wissen.
    „Das kann man nicht sagen“, antwortete er und wiegte seinen stolzen Wipfel. „Manchmal wird man auch fest umklammert und empfindet dies als angenehm. Und solange dabei immer noch grüne, saftige Blätter kommen, macht das ja auch nichts. Und wenn man seine Blätter so aneinander reiben kann, dass ein sanft raunendes Lied dabei herauskommt- was ist dagegen zu sagen?“
     Ich wartete noch ein Weilchen, bevor ich mich erhob, aber er sagte nichts mehr. Nur seine mächtigen Äste streckten sich, als wäre er zu einer neuen Umarmung bereit.

Der Osel
Eine Ostergeschichte

 

Damals, in bunter Vorzeit, als Ministerpräsidenten noch integer, die Griechen noch ein Volk von Philosophen und in Erdbeerjoghurts noch keine Sägespäne waren, da lebten im Osten -gleich hinter dem Ural um die Ecke- ganze Batterien von glücklichen Hühnern, die aber mit Cadmium und Granatwerfern nichts an der Feder hatten (Achtung! Einmal kräftig nachgedacht!). Glücklich waren sie allerdings nicht wirklich, eher unglücklich, weil sie, wie es ihrer Natur entsprach, Eier legten. Das ist nicht weiter schlimm, werdet ihr jetzt sagen. War es aber doch, weil es nämlich sooo viele Eier waren, dass sie schon aus den Nestern kullerten, die Hänge des Ural hinab bis nach China hinein, wo die Einwohner darin herum trampelten, bis sie von den vielen Eidottern ganz gelb waren. Und weil die Chinesen das nicht mehr wollten, bauten sie eine große Mauer gegen die Eierflut.
     „So geht das nicht weiter!“, sagte eines Tages der Oberhahn, den sie „Trotzki“ riefen, weil er immer so motzig und trotzig war. „Wir brauchen ein Vertriebssystem! Oder wenigstens eine gute Marketingstrategie!“
     Er wusste zwar nicht so genau, was das eigentlich ist, aber das Wort hatte er in der Zeitung gelesen, die jeden Monat einmal mit einem Einmaster von Aserbeidschan den Jennesei hochkam. Auch eine Revolution wäre für Trotzki in Frage gekommen, weil nicht nur der Osten, sondern auch sein Kamm rot war. Außerdem hatte er gehört, dass eine Revolution ihre eigenen Kinder frisst! Damit wäre das Problem der Überproduktion zumindest teilweise gelöst, denn viele der eierlegenden Hennen waren von ihm selbst gezeugt worden. Aber da machte das Hühnerheer nicht mit. Zwar stimmten viele ständig Klagelieder über ihre hohen Arbeitsnormen an, aber letztlich doch immer wieder für Trotzkis System, in dem die Hühner auf den oberen Stangen die Hühner unter ihnen bescheißen konnten, wie sie grade lustig waren. Auf die oberen Stangen kam man, indem man Trotzki schön tief in den Arsch kroch, was dieser sehr genoss. Das funktionierte auch prima, weil der Darm immer frei war, da Trotzki als Hahn ja keine Eier legen konnte. Noch nicht mal geistige! Aber das nur nebenbei!
     Irgendwas musste jedenfalls passieren und Trotzki lobte eine Prämie für die beste Verkaufsidee aus. Der 1. Preis war eine Broschüre mit dem Titel „Wie bürste ich eine Henne?“, denn Trotzki war in seiner Batterie sehr auf Sauberkeit bedacht.
     Schon am nächsten Tag kam ein Unterhahn angerannt, den alle nur „Poppei“ riefen, weil er alles poppte, was einen Puls hatte.
     „Chef! Che-ef!“, rief er atemlos, „Ich hab sie, die Mark-ei-ting-Strategie!“  Seit er mal in China gewesen war, um mit der Regierung wegen der kullernden Eier zu verhandeln, sprach er alles chinesisch aus, der alte Wichtigtuer.
     „Mark-e-ting!“ berichtigte ihn Trotzki tadelnd. Aber er hatte vorher lieber selbst noch einmal nachgelesen, weil er immer noch nicht so richtig verstanden hatte, was das eigentlich ist, dieses Marketing. Wie wir alle wissen, sind Chefs ja nicht unbedingt schlauer als ihre Untergebenen, nur weil sie auf einer höheren Stange sitzen!
     „Ist ja egal, Chef“, beruhigte Poppei ihn. „Hör´ mir doch mal zu! Wir müssen die Eier verkaufen. Am besten in den Ländern, die Richtung Sonnenuntergang liegen. Ich habe gehört, dass es dort bei den Eingeborenen uralte Rituale  geben soll. Feste mit seltsamen Bräuchen, wo die Menschen sich mit Girlanden behängen, wenn der Frühling kommt. Wir müssen nur eine Symbolik aufbauen und sie davon überzeugen, dass es wichtig ist, an so einem Fest unsere Eier zu kaufen. Und wenn wir das richtig machen, können die Menschen sich so ein Fest irgendwann gar nicht mehr ohne Eier vorstellen! Lass mich nur machen! Du hast von Marketing keine Ahnung! Ich zwar auch nicht, aber das merkst du nicht. Unter den Blinden ist der Einäugige bekanntlich König!“
     Und so setzte Poppei ganze Herden von Hühnern Richtung Westen in Bewegung. Jedes Tier zog in einem kleinen Wagen je ein Ei hinter sich her, tagelang, über die Gebirgskette des Ural, durch weites Sumpfland, immer weiter der untergehenden Sonne entgegen. Viele starben auf dem langen Weg, weil Poppei wegen des Verfalldatums der Eier den Transport in den Winter verlegt hatte, damit sie länger frisch blieben.  Nur wenige erreichten mit ihrer Last das Land zwischen dem großen Meer im Norden und den hohen Bergen des Südens.
     Dort wurden sie von den Eingeborenen herzlich aufgenommen. Alle aßen Eier und manche malten sie sogar noch bunt an, was sehr hübsch aussah. Einige rollten sie Berge hinab oder schossen gar auf sie! Ein Herr Waldorf ließ sich die Schalen aufheben, um sie an seiner Schule von Kindern kreativ verarbeiten zu lassen.
     Die Sitte des Eieressens zum Frühlingsfest zog immer größere Kreise. Aus dem Süden des Landes, im Voralpenland, ertönte lautes Geschrei. Hier lebte ein dumpfes Volk, das sich überwiegend durch Grunzlaute verständigte, aber glaubte, sie seien die Größten! Sie waren der Meinung, autonom leben zu können, wollten aber von Neuerungen auch nicht ausgeschlossen sein, wenn sie von Vorteil waren. Und deshalb hatten sie einen Verein zur Eierbeschaffung gegründet, den sie „Beiern“ nannten und schrien immer lauter:
     „Eier! Wir brauchen Eier!“
     Die Hühner konnten das Geschrei nicht hören, da ihre Ohren viel zu klein waren. Gern hätten sie den Süden beliefert und damit etwas zur Zivilisierung dieses ungeschlachten Menschenschlags beigetragen, aber sie vernahmen die Rufe nicht. Poppei erkannte das Problem.
    „Chef“, sagte er bei seiner Rückkehr, „wir brauchen Transporttiere mit größeren Ohren, die hören, wenn die Eingeborenen nach unseren Eiern rufen. Gut wäre es auch, wenn diese Tiere groß und kräftig wären, um mehr Eier auf einmal gen Westen zu transportieren.  Wie du weißt, war ich wegen einer Eierlieferung mal im Oreient, genauer gesagt in der Türkei, die ja früher nur Türk hieß. Erst seit sie die Eier von uns importieren, nennen sie sich Türkei. Im Gegensatz zum Oreient. Der wollte keine von uns und heißt deshalb heute ja leider auch nur Or-i-ent.“
     Ungeduldig unterbrach ihn Trotzki, weil während Poppei´s Rede schon wieder Unmengen von Eiern Richtung Mongolei gerollt waren, die früher auch nur Mongol hieß.
     „Komm endlich zur Sache!“ knurrte er.
    „Dort in dieser Türkei gibt es Tiere, die wären genau das Richtige für uns“, erklärte Poppei seinem Chef. „Sehen aus wie unsere Kosakengäule, nur viel schöner. Mit großen Ohren und starken Knochen. Und treu wie Gold! Man nennt sie Esel!“
     Trotzki erlaubte Poppei, ein paar von diesen Eseln zu importieren und zeigte sich hochzufrieden, als sie endlich da waren und vor seiner Stallresidenz graue Aufstellung nahmen.
    „Sofort zum Einsatz fertig machen“, rief er. „Nehmt mit, soviel diese herrlichen Tiere tragen können!“
     Und das war eine ganze Menge! Hunderttausende von Eiern kamen auf diese Weise in die Länder des Westens. Viele Orte, die am Weg lagen, zeugen noch heute von der alten Route, die die Esel nahmen. So z.B.  Leipzig, Meißen, Weimar, Eisenach und Meinz. Bei den Flussübergängen benutzten sie Brücken, die noch heute „Eselsbrücken“ heißen. Mittlerweile hatten die Menschen gelernt, dass sich ein wesentlich besserer Geschmack erzielen ließ, wenn man die Dinger kochte oder briet. Sogar bei den Beiern. Nur weiter im Westen bei den Keiserslauterern verzehrte man sie weiterhin roh, so dass diese Spezies bis heute als Weicheier bezeichnet wird. Aber in Einem war man sich Regionen übergreifend einig: das Frühlingsfest sollte ab sofort einen einheitlichen Namen haben, nämlich „Ostern“, weil das O an ein Ei erinnert.
     Diese Kunde brachte Poppei mit, nachdem er mit den Eseln und leeren Körben wieder am Ostural angekommen war.
    „Okay“, meinte Trotzki, „wenn die im Westen so kreativ sind, dann will ich das auch sein! Ich taufe hiermit die Esel in Osel um. Denn erstens passt das wegen dem „O“ besser zu Ostern (der Genitiv war ihm fremd!) und außerdem sind wir hier im Osten! Kapiert?“ Poppei sagte nichts dazu, fragte sich aber, wieso um alles in der Welt Chefs manchmal so bescheuerte Entscheidungen treffen. Als er den Eseln mitteilte, dass sie ab sofort Osel heißen sollten, gründeten diese eine Gewerkschaft, verweigerten ab sofort die Arbeit und ließen Trotzki ausrichten, er könne sie mal am Arsch lecken. Ersatz fanden Trotzki und Poppei in Hasen, die über ähnlich lange Ohren verfügen, um die Rufe nach Eiern von Beiern bis nach Holstein zu vernehmen. Und deshalb, liebe Kinder, bringt bis heute der Osterhase die Eier zu euch und nicht der Osel, obwohl Osteresel eigentlich viel schöner wären.