Samson

Samson hat mal wieder so lange gequengelt, bis ich mich bereit erklärt habe, ihn mitzunehmen...

 

 

 

Samson

 

Samson ist ein Esel. Ein Stoffesel. Das Geschenk einer früheren, langjährigen Beziehung und das schönste, das ich je bekam. Samson lag vor Jahren im Aldi in einer Gitterbox. Ich liebe ihn! Eigentlich sieht er nicht wie ein Esel und genau genommen ziemlich dämlich aus. Es gehört schon einige Fantasie dazu, überhaupt einen Esel in ihm zu erkennen. Aber andere Assoziationen sind unzulässig. Ein dicker Kopf, graubeiges Fell, Beine und Ohren sind für einen Esel viel zu kurz. Das linke Ohr knickt ab. Schwarze, runde Knopfaugen. Ein angedeuteter Schwanz, der nicht richtig zum restlichen Kopfkissenkörper zu gehören scheint. Bis zu dem Abend, der mein Leben verändern sollte, saß er in immer gleicher Position auf der alten, gepolsterten Kirchenbank von 1880, die in der gemütlichen Wohnküche steht, stierte in immer gleiche Richtung vor sich hin und war einfach zuverlässig da. Ich freute mich täglich über seinen tiefgründigen Blick, mit dem er mich beim Nachhausekommen zu begrüßen scheint. Die Konstanz seiner Anwesenheit verschafft mir ein Gefühl von Stabilität.

      An diesem trüben Tag im November deutete nichts auf einen radikalen Umbruch in meinem Leben hin. Nach Spaghetti mit Olivenöl, knusprig gebratenem Schinken, Tomaten, Parmesan und Rucola gibt´s den obligatorischen Entspannungsdrink, einen täglichen Single Malt Whisky aus Schottland mit einer Fassreife von mindestens zwölf Jahren. Heute wähle ich einen tiefbraunen „Dalmore“ mit Geschmacks-noten von Orangen und Honig. Eine Delikatesse! Ich schwelge gerade in Erinnerungen an meinen letzten Besuch in der Distillery am Cromarty Firth, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahr-nehme. Und ganz deutlich höre ich eine Stimme:

         „Was machst´n da eigentlich die ganze Zeit?“ – Ach du Scheiße! Samson redet! Es ist so weit! Delirium! Ich weiß schon lange, dass ich es mit dem Alkohol gelegentlich übertreibe! Verblüfft gucke ich zu ihm rüber und sehe, wie er seinen dicken Kopf in leichte Schräglage bringt. Dabei bohren sich seine schwarzen Knöpfe in meine trüben Augen. So richtig kapiere ich nicht, dass er eine Frage an mich richtet und schiebe das Whiskyglas vorsichtshalber etwas von mir weg. Vielleicht sollte ich es ganz lassen mit dem Alkohol. Ich blinzele zur Kirchenbank hinüber.

     „Hallo! Jemand zuhause?“, fragt er anzüglich. „Redest du nicht mit mir? Machste doch sonst auch, wenn du mal wieder deine Einsam-keitsphase hast und ich das Tröstetier spielen muss!“

      Gut! Ganz ruhig! Bei dem einen sind´s weiße Mäuse, bei mir sind es eben  Schaumstoffwürfel in einer genähten Stoffhülle. Das muss man akzeptieren. Keiner hat an dieser Entwicklung Schuld außer ich selbst! Indem man sich auf ein Gespräch mit toter Materie einlässt, hat man dem Großteil der Menschheit eine Erfahrung voraus.  

     „Oh, Verzeihung!“ Ich begegne ihm mit ausgesuchter Höflichkeit. „Wie kommt es, dass der Herr geruht, nach Jahren der Schweig-samkeit das Wort an mich zu richten? Ist was passiert?“

     „Ich mach´ mir Sorgen, Sorgen um dich!“

     Oh mein Gott! Freddy! Junge, komm bald wieder - das Lieblingslied meiner verstorbenen Mutter! Quatschende Stofftiere - okay! Aber bitte nicht Freddy Quinn! Ich wage die Frage:

     „Mutter, bist du´s?“

   „Red´ keinen Scheiß“, blafft er, „Reinkarnation ist was für Schwachköpfe! Das war nur ein rhetorisches Späßchen, weil du den alten Schinken manchmal vor dich hin jaulst! Ich mach´ mir Sorgen, weil ich dich seit langem beobachte. Ständig hämmerst du was in deinen Laptop, kaust auf deinen Fingern rum, säufst zu viel Bier und brabbelst vor dich hin. Ich frage dich nochmal: was machsten da eigentlich?“ 

     „Ein Buch schreibe ich, wenn du´s genau wissen willst!“ Ich bin ehrlich empört! „Ein Buch über die Blödheit!“ Bisher war mir nicht präsent, dass ich ab und zu Freddy sang.

     „Na, da kannste ja gleich bei dir anfangen. Den Hauptdarsteller haste schon“, höhnt er. „Bescheuert bist du auch! Da weißte ja wenigstens, wovon du schreibst!“

      Mein Stofftier ist mir plötzlich sehr, sehr fremd. Nie habe ich mir Gedanken über seinen Charakter gemacht und schon gar nicht darüber, dass dieser vielleicht bösartig sein könnte. Aber wir haben ja auch noch nie miteinander kommuniziert. Ich war froh, wenn er irgendwo herum saß, richtete gelegentlich das Wort an ihn und rechnete nicht mit Reaktionen.

     „Eine besondere Leuchte scheinst du mir ja auch gerade nicht zu sein, so wie du aussiehst. Dir guckt doch die Dummheit aus deinem dicken Gesicht“, ätze ich zurück. Der weiße Waschzettel, der aus Samson´s Arschnaht guckt, zittert leicht. Ich habe ihn nie abgeschnitten. War nicht wichtig. Jetzt zeigt er seine innere Erregung.

     „Dummheit, mein Lieber“, bedeutet er mir würdevoll, „ist etwas anderes als Blödheit. Für Dummheit kann man nichts. Dummheit ist angeboren oder Vererbung, während Blödheit ein Mangel an Erkennt-nis ist, obwohl die Voraussetzungen für Intelligenz gegeben sind.“ Leichtes Hüsteln. „Und für meinen Gesichtsausdruck sind meine Eltern verantwortlich.“

     „Hä? Was für Eltern?“ Mein Gesichtsausdruck ist ein einziges Fragezeichen.

     „Mein Vater ist ein japanischer Designer, Abkomme einer uralten Samurai-Dynastie, der in Taiwan Stofftiere entwirft und damit für meine -zugegebenermaßen etwas verschrobene- Physiognomie verantwortlich ist. Sein Bruder zeichnet die Stoffbögen, die dann nach China geschickt werden, weil dort billiger produziert wird. Somit ist er mein Onkel. Und meine Mutter war Näherin in der Fabrik in Shanghai, wo sie mir meinen wohlgeformten Laib schenkte.“

     „Wieso war?“, frage ich mit einem zweifelnden Blick auf seinen dicken Arsch.

     „Weil mein Vater sie während einer Besichtigung des Werks sah, sich umgehend verliebte und sie mit nach Taiwan nahm, wo sie heirateten. Die beiden bewohnen jetzt eine Villa am Stadtrand von Taipeh. Wie du siehst, bin ich nicht heimatlos und habe einen durchaus polyglotten Stammbaum. Ich bin adelig und weitgereist!“ Wieder dieses Hüsteln. „Hättest du dir mal die Mühe gemacht, auf meinen Ausweis zu gucken, dann hättest du gesehen, dass dort `Made in Taiwan´ steht und außerdem, dass ich bei 30º Celsius waschbar bin. Das wäre mal fällig nach den vielen Jahren in dieser Miefbude, du Ferkel!“

     Geflissentlich überhöre ich diese neuerliche Beleidigung. Bei mir mieft nichts. Aber ich renne auch nicht unbedingt dreimal täglich mit dem Staubsauger durch´s Haus!

      Ich überprüfe seine Angaben auf dem Waschzettel. Tatsächlich, da steht´s verblichen auf weiß: Made in Taiwan, waschbar bei dreißig Grad und ein Querstrich durch das Trocknersymbol.

     „Und wenn der Herr jetzt geruhen würde, mir auch einen Whisky zu kredenzen, könnte es nach meinem Outing noch ein schöner Abend werden. Allerdings bevorzuge ich eine etwas torfigere Note. Etwas von der Westküste. `Ardmore´, Talisker´ oder sowas. „`Highland Park´ geht auch!“

      Aus heutiger Sicht wundere ich mich über meine Gelassenheit, über die relative Selbstverständlichkeit, mit der ich einen sprechenden Stoffesel hinnahm. Irgendwie kam ich auch gar nicht richtig zum Nachdenken. Es war, als hätte er nur auf diesen Tag gewartet, an dem er sich aus seiner Isolation befreien konnte. Er brabbelte und brabbelte und ich erfuhr in den folgenden Stunden alles über seine heimlichen Umtriebe der letzten Jahre und die Parallelwelt, in der er sich mir gegenüber versteckt gehalten hatte. Schon längere Zeit wunderte ich mich über die sich schnell leerenden Whiskyflaschen, aber durch meinen eigenen Verbrauch und einige whiskytrinkende Freunde hatte ich der Sache keinen anderen Hintergrund zugeordnet. Jetzt erfuhr ich, dass dieses kleine Monster sich in meiner Abwesenheit öfter mal einen genehmigte. Darüber hinaus hatte er sich in den letzten Jahren alles reingezogen, was seinen Horizont erweiterte. Musik vor allem! Er musste sich intensiv mit meinem Tonträgerrepertoire beschäftigt haben, denn wie die Zukunft zeigen sollte, hatte er richtig Ahnung, zumindest, was die Bandbreite meiner CD´s betraf. Die alten Schinken der Enzyklopädien hatte er gewälzt, sich intensiv mit meinen Folianten von Kunst, Geschichte und Philosophie beschäftigt und das Internet durchhechelt. Wie er es auf seinen kurzen Stummeln bis ins Wohn-zimmer geschafft hatte, wo der Fernseher steht, war mir zu diesem Zeitpunkt allerdings noch ein Rätsel, aber auch vor den bunten Bildern hatte seine Wissbegier nicht halt gemacht! Alles aus Langeweile, wie er an diesem Abend mehrfach betonte. Und wie sich nach und nach herausstellte, war er durchaus auf meinem Level. Er hatte soweit Englisch gelernt, dass er mit Vokabeln um sich werfen konnte und entpuppte sich als Kenner zahlreicher Zitate, die er mir in der Folge an unseren gemeinsamen, langen Abenden mehr oder weniger passend um die Ohren schlug.

     „Wenn du adelig bist, kann ich dich ja `Samson von Albrecht´ nennen, weil du vom Aldi kommst“, schlage ich vor.

     „Red´ kein´ Müll, Mann“, blafft Samson, „ich bin dein Kumpel! Wir werden sein ein einig Volk von Brüdern! Dies ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft! Wie Holmes und Watson. Robinson und Freitag. Jekyll und Hyde...“ Ich unterbreche ihn, bevor er vielleicht noch auf Bohlen und Anders kommt: 

     „Solange du nicht meinst, mir auf dem Kopf rumtanzen zu müssen und mich als dein Herrchen anerkennst, habe ich nichts dagegen. Ich habe die rote Kappe auf, ist das klar?“

     „Geht klar, Chef! Lass uns darauf anstoßen!“ Wir hauen die Whiskygläser aneinander und prosten uns zu und Samson sagt leicht flötend:

     „I have the honour to be, Sir, Your Majesty´s humble and obedient servant!” (Ich habe die Ehre, mein Herr, Ihrer Majestät demütiger und ergebener Diener zu sein!)

      Ich muss nicht unbedingt das letzte Wort haben, aber hier schien es mir angebracht zu sein.

     "Na, dann ist ja gut", sage ich. "Hoffentlich hältst du dich da dran!"

 

  

 

 

 

 

 

Friede auf Erden

 

     „Hör auf damit!“

     Samson guckt aus den Augenwinkeln zu mir rüber, ohne  seinen dicken Kopf zu bewegen. Er sitzt auf seinem Lieblingsplatz am Fenster und glotzt durch die regenblinde Scheibe in das Arschwetter, das sich hinter dem Glas abspielt.

     „Du weißt genau, was ich meine“, sage ich. „Lass es einfach sein!“

      Samson schmatzt. Er schmatzt nicht so, wie man dies von kauenden Menschen kennt, er schmatzt aus Gewohnheit und geht mir damit tierisch auf den Sack! Gerechter weise muss ich anmerken, dass er das nicht immer tut, aber heute schmatzt er! Laut, ekelig, andauernd und nervend! Wieder dieser kopfdrehlose Blick:

    „Kann nix dafür“, nuschelt er, „Gewohnheit.“

   „Haste ja früher auch nicht gemacht“, bemerke ich, „ist erst seit ein paar Wochen so. Jahrelang war überhaupt nichts von dir zu hören! Kein erkennbarer Laut kam über deine Lippen! Und plötzlich fängst du an zu schmatzen? Da war mir die geräuschlose Zeit aber lieber!“ Samson drückt sich tiefer in die Möhrendecke. Es ist seine Kuscheldecke, mit bunten Möhren bedruckt, und ich muss sie ihm während der nieseligen Herbsttage jeden Morgen über Schultern und Rücken legen. Darin verdöst er oft den ganzen Tag, nur unterbrochen von gelegentlichen Kommentaren über das Treiben auf der Straße. Seit er sich als lebenden Organismus geoutet hat, ist mein Dasein nicht unbedingt einfacher, aber auf jeden Fall abwechslungsreicher geworden. Samson mischt sich aktiv in Tagesabläufe ein und nimmt am Weltgeschehen teil. Jeder Nachrichtenforz im Radio wird kommentiert. Die Abende vergehen kurzweilig über Gesprächen und Diskussionen vor dem flackernden Kamin. Diverse Single Malts wirken in der Regel bewusstseinserweiternd und runden die Sache ab. Wir sind auf Augenhöhe. Die anfänglichen Probleme des Zusammen-lebens mit einem sprechenden Stofftier weichen einer angenehmen Harmonie, die gut tut.

      Samson hat alle Verhaltensfacetten drauf. Manchmal ist er vorlaut, grob und rotzig, mal nervig, gouvernantenhaft, manchmal sensibel oder naiv und einfältig wie ein Kind. Er kann lieb und herzlich sein wie Florence Nightingale und im nächsten Augenblick idiotisch-despotisch wie Donald Trump. Ab und zu überdreht er, dann bekommt er von mir einen groben Klotz auf seinen groben Keil, umgekehrt bremst er mich gelegentlich ein, wenn ich mich in Rage rede. Wir ergänzen uns. Und -wie gesagt- ich liebe ihn!

      An das Alleinsein und die gelegentlichen Einsamkeitsanfälle früherer Jahre hatte ich mich im Laufe der Zeit gewöhnt, wenn mich die Einsamkeit trotz eines sozialen Umfeldes auch gelegentlich einholt Ich war mehr oder weniger zufrieden mit meinem Dasein und genoss die Stille in der Abgeschiedenheit meines Häuschens in einer kleinen Gemeinde am Mittelrhein. Niemand drückte mir ein Gespräch auf, niemand schrieb mir das abendliche Fernsehprogramm vor und niemand erhob Einwände gegen stundenlange Spaziergänge durch die Rheinauen oder das nahegelegene Waldgebiet. 

      Gerade kam ich von so einer Tour zurück. Mittlerweile war es Dezember geworden. Der Himmel drückte schwer auf das Dorf, hier und da hingen schon Lichterketten an Häusern oder waren lieblos über noch blütentragende Büsche geworfen worden. Hauptsache Ami-scheiße und Kitsch! Das ganze Jahr über Energiekosten jammern, aber zur Adventszeit die ganze Außenfassade mit Blinkbirnen zupappen! Und dann diese dämlichen Nikoläuse, die an Stoffleitern hängend vortäuschen, im hohen Alter noch auf Dächer klettern zu können! Ich habe schon als Kind nicht kapiert, wieso diese armen Schweine sich durch dreckige Kamine quälen müssen und anschließend trotzdem aussehen wie frisch geduscht!

      Samson sitzt immer noch am Fenster. Ohne Decke, dafür ist es draußen trotz Ekelwetter viel zu warm für Dezember. Er dreht sich noch nicht mal um, als ich die Küche betrete. Schweigend klebt er mit seiner dicken Schnauze an der Scheibe und guckt dem stets schlechtgelauntem Nachbarn zu, der gerade seinen Kläffköter Gassi führt. Normalerweise begleitet Samson diese tägliche Aktion mit bösartigen Kommentaren. Dass er heute schweigt, erstaunt.

     „Ich fühle einen tiefen Frieden in mir“, sagt Samson unvermittelt. „Es ist Zeit für etwas weihnachtliche Stimmung. Wann kaufst du denn endlich einen Weihnachtsbaum?“ Scheiße! Auf diese Diskussion bin ich nicht vorbereitet! Verärgert lege ich ein dickes Buchenscheit auf die dürrer werdenden Flammen.

     „Hast du schon jemals erlebt, dass ich Weihnachten feiere, du Vogel?“, blaffe ich ihn an. „Das offene Kaminfeuer ist Stimmung genug. Außerdem frisst du mir schon seit Tagen die ganzen Plätzchen weg! Von dem ein oder anderen wäre ich selber auch gern fett geworden!“

     „Mein Urahn wäre sicher froh gewesen, er hätte damals in Bethlehem welche gehabt“, kommt die würdevolle Antwort. „Auf den Krippenbildern sieht er immer so verhungert aus neben dem massigen Ochsen. Warum hat Maria denn eigentlich keine Plätzchen gebacken? War doch Heiligabend, als die da alle im Stall hockten! Was ist Heiligabend ohne Vanillekipferl, Lebkuchen oder Kokosmakronen?“

      Ach du großer Gott, denke ich, jetzt dreht er durch! Versonnen guckt Samson zum Fenster in den schneelosen Himmel. Dann gibt er sich die Antwort selbst:

     „Aber sie war ja kurz vor der Niederkunft, die Gute. Da hatte sie natürlich andere Sachen im Kopf. Zudem war ja auch kein Platz in der Herberge“ sinniert er und schiebt ein geseufztes „Die Armen!“ hinterher.

     „Aber Josef, die faule Sau!“, fährt er auf, „der hätte Plätzchen backen können! Dann hätte er auch den  heiligen drei Königen was anbieten können! Die hatten doch Kohldampf nach der langen Reise! Wär bestimmt schön gewesen, so unter dem Weihnachtsbaum und um die Krippe herumzusitzen. Draußen schneit´s, alles schön gemütlich, mit Weihnachtslieder singen und Glühwein saufen und so!“  

      Lautstark jault er „Sti-ille Nacht…“ in Richtung Zimmerdecke.

     „Samson, Samson! Ich glaube, ich muss dir etwas erklären!“ Behutsam schütte ich ihm einen 12-jährigen „Bunnahabhain“ nach, um ihn schonend auf die Wahrheit vorzubereiten. „Du musst jetzt sehr tapfer sein! Mach´s dir mal bequem!“

      Und ich erzähle ihm von der Entstehung der Weihnachtsgeschichte, die sich irgendein frühchristlicher Schreiber aus den Fingern gesogen hat und wie sie dann Eingang fand in ein Bündel ähnlich verherrlichender Märchen, die sich damals um Jesus rankten und schließlich von Martin Luther schön griffig übersetzt wurde. Ich erzähle ihm, dass es in Israel selten schneit, dass den heiligen drei Königen ein Teller Kus-Kus wahrscheinlich lieber gewesen wäre als Josef´s Hirseplätzchen, dass die Jungfrauengeburt nie stattgefunden hat und nur ganz Hartgesottene noch daran glauben. Die glauben aber auch, dass Jesus aus zwei kleinen Fischen und ein paar Stückchen Brot ein ganzes Cateringprogramm auf die Beine gestellt hat, mit Schnittchen für fünftausend Leute, oder dass Noah alle Tiere der Welt paarweise vierzig Tage lang in ein selbstgezimmertes Ausflugsboot gepfercht hat, was jetzt mit Weihnachten nicht unbedingt etwas zu tun hat. Es sei denn, Noah hätte den Weihnachtsbaum an das Viehzeug verfüttert.

      Still hört Samson zu. Ab und zu quellen Tränen aus seinen kleinen Knopfaugen, sickern in das bräunliche Fell und begleiten still das Einreißen infantiler Glaubensgebilde.

     „Aber der Weihnachtsmann!“, flennt er, „und das Christkind!“

     „Tut mir leid, Alter! Der Nikolaus war ein Heiliger aus der Türkei, der von Coca-Cola zum Rentierzüchter am Nordpol umgeschult wurde und das Christkind hat von der Berufsgenossenschaft Arbeitsverbot bekommen, weil es die Arbeitsschutzbestimmungen nicht eingehalten hat. Zu viele schwere Päckchen. Ohne Sicherheitsschuhe und Hebehilfen! Von den vielen Überstunden ganz zu schweigen!“

     Der Zusammenbruch hat sich zwar die letzte halbe Stunde angedeutet, kommt in seiner Heftigkeit aber doch überraschend. Ich stabilisiere das bebende Bündel mit einem weiteren Glas Islay-Whisky zumindest soweit, dass er mit diesem anstrengenden, konvulsivischen Schluchzen aufhört.

    „Weihnachten gehört abgeschafft! Wenn überhaupt, sollte es nur von Leuten gefeiert werden, die diesen ganzen Käse glauben. Die können sich ja in Selbsterfahrungsgruppen zusammenfinden und in selbstgegrabenen Katakomben vor sich hin jubilieren, wo sie den Einkaufswahn des ganzen anderen atheistischen Packs nicht stören! In der Zeit, wo sie graben, wären sie oben in der Adventshektik aus den Füßen und würden mit ihrer zaghaften Botschaft von Nächstenliebe nicht den Konsumterror behindern. Was gibt es Schlimmeres, als mit seinen Einkaufstüten an einer Gesangsgruppe der Heilsarmee hängen zu bleiben, die weihevolle Weihnachtsweisen intoniert und blauuniformiert die Fußgängerzone verengt!“

     „Aber die Botschaft!“, stammelt Samson, immer noch tränenblind. „Die Botschaft ist doch schön! Friede auf Erden und allen Menschen ein Wohlgefallen!“

     „Klar!“, sage ich, „sicher ist das schön! Aber die Wirklichkeit sieht doch etwas anders aus! Zwanzig Jahre lang hatte ich meine Arbeitsräume direkt in der Innenstadt und habe die Aggressivität erlebt, die Menschen in der Vorweihnachtszeit an den Tag legen. Wie sie sich wegen eines Parkplatzes fast die Köpfe einschlagen! Wie sie geldgierig um ein paar Euro feilschen und die Verkäuferinnen in den Kaufhäusern beschimpfen! Wie sie sich auf dem Weihnachtsmarkt bei fünfzehn Grad gefühlter Außentemperatur mit pappigem Glühwein zusaufen und Passanten bepöbeln! Hast du schon mal mit- bekommen, wie ausfällig jemand werden kann, der mit seinen Riesenpaketen für die Enkel nicht mehr in den vollbesetzten Bus passt?“

     „Nö! Wie denn? Nimmst mich ja nie mit! Lässt mich ja immer nur hier rumsitzen und die zwanzigtausendste Wiederholung von `Die 50 schönsten Weihnachtslieder der Nordrhein-Westfalen´  gucken!“

     „Sei froh! Dein heiles Weltbild bekäme dauerhafte Risse! Guck´ du mal lieber deinen Freund André Rieu, obwohl das mit Wohlgefallen ja auch nix zu tun hat!“

     „Du bist ein altes Lästermaul! Ein Grinch!“ Langsam findet Samson zu alter Selbstsicherheit zurück.

  "Ich lasse doch den Menschen ihre Freude an Kunstschnee, gnaden-loser Einkaufshetze und strahlenden Kinderaugen? Aber Eltern und Verwandte versündigen sich in Scharen an ihren Kindern und Enkeln, die völlig überfordert zwischen Bergen von Paketen umherirren. Und wenn sie dann noch Panzermodelle zum Selberzusammenkleben in glöckchenbedrucktes Weihnachtspapier packen, fällt dies durchaus in den Bereich der Blödheit. Hat aber Tradition. Schon unter Kaiser Wilhelm II. galten Zinnsoldaten als pädagogisch wertvolles Weihnachtsgeschenk unter Tannenzweigen, die mit gebastelten Bomben behängt befremdet belauschten, wie der Vater auf Heimaturlaub seinen Blagen die Geschichte vom Weihnachtswunder an der Front erzählte. Schon mal gehört?“

     „Nein“, sagt Samson, „aber wie ich dich kenne, werde ich ihr nicht ausweichen können!“

     „Im ersten Weltkrieg lagen sich Engländer und Deutsche irgendwo in Frankreich gegenüber. Die jeweiligen Heereskommandos hatten Befehl gegeben, während der Weihnachtstage die Kampfhandlungen einzustellen. Und so kamen am Heiligabend die verfeindeten Soldaten vorsichtig aus ihren Schützengräben und feierten zusammen im Niemandsland Weihnachten. Als die `Festtage´ vorbei waren, schossen sie sich wieder gegenseitig die Birne runter und Arme und Beine ab. Und fünfundzwanzig Jahre später feierten KZ-Kommandanten mit ihren Familien Weihnachten, während unter ihren Fenstern die Menschen jämmerlich verreckten und in die Gaskammern getrieben wurden! Und heute? Heute schicken wir Soldaten in Länder der ganzen Welt, um den Frieden zu sichern! Wie sieht das aus? Steckt dann ein geschmückter Weihnachtsbaum im Rohr vom Leo 2 oder steht `Frohe Weihnachten, liebe Taliban´ auf den Panzerplatten?  Die Politik hat nichts gelernt! Wo ist der Unterschied zwischen Kaiser, Reichskanzler und Bundeskanzler oder -innen? Wer Menschen zum Sterben schickt, darf mir Weihnachten nichts von Friede, Freude, Eierlikör erzählen! Und wenn ich Fernsehmoderatorinnen sehe, die mit gütigem Lächeln an mein schlechtes Gewissen und meine Hilfsbereit-schaft appellieren und mir Jahreslose für Hilfsorganisationen verkaufen wollen, von dem Erlös aber vorab schon mal selber eine halbe Million Euro nur für ihr dämliches Grinsen einsacken, dann werde ich aggressiv! Dann bin ich mit meiner Bereitschaft zum Amoklaufen ein guter Kandidat für islamistische Fundamentalisten! – Apropos Eierlikör… willste noch einen `Bunnahabhain´?“

      Samson nickt nur und schweigt betreten. Ich habe mich ziemlich in Rage geredet.

     „Auch im häuslichen Bereich schlagen sich viele über Weihnachten die Köpfe ein“, fahre ich fort, „weil die Erwartungshaltung an Harmonie und Geschenke so hoch ist. Beiden Anforderungen wird die Wirklichkeit dann oft nicht gerecht, vor allem nicht bei den gegenseitigen Gaben. Auf Teufel komm raus wird irgendein Mist gekauft, nur weil man meint, mit aller Gewalt etwas schenken zu müssen. Und der Beschenkte heuchelt Freude und Begeisterung, obwohl er seine Alte am liebsten an der Krawatte aufhängen würde, die er gerade aus der Pappe puhlt. Und Mutti kotzt innerlich, weil sie statt des lange ersehnten Goldkettchens nur drei neue Spültücher von Aldi (Nord) bekommt. Sie rächt sich, indem sie der Rotkrautportion für ihren Alten, die es als Beilage zur verbrannten Gans gibt, etwas Rizinusöl beimischt, die Vati mit dem Sohn tauscht, weil er kein Rotkraut mag, was Mutti auch sehr wohl weiß. Was sie nicht weiß ist, dass der Bub eine nicht erkannte Rizinusallergie hat. Folglich  verröchelt er an der festlich gedeckten Weihnachtstafel. Mord und Totschlag, wie du siehst! Und die Selbstmordrate ist an den Festtagen auch besonders hoch!“

     „Wieso das denn?“

  „Weil Medien und Wirtschaft ein Weihnachtsklischee entwickelt haben, das es in Wirklichkeit für die meisten nicht gibt! Überall wird Familienglück propagiert, fröhliche Menschen unter glitzernden Weihnachtsbäumen, die in die schneeverträumte Landschaft winken, wo der Weihnachtsmann in rentiergezogenem Schlitten mit hell- klingenden Glöckchen über den rosaroten Abendhimmel jagt, in dem die Engelchen Plätzchen backen. Glückliche Kinder sitzen auf dem Schoß ihrer grauondulierten Großmutter, die aussieht wie Queen Mum nach dem dritten Gin und lauschen verzückt der Geschichte vom geschenkebeladenen Christkind. Und die Kinder haben die Oma ganz doll lieb und Mama und Papa auch und ihre Geschwisterchen sowieso und der ganze alltägliche Beziehungsstress ist so weit weg wie Techno oder Rap von Musik.

      Und wenn du dann allein in deiner Bude hockst und dir noch nicht mal einen Weihnachtsbaum leisten kannst, weil sogar deine Heizkosten vom Sozialamt bezahlt werden und deine Enkel schon lange nicht mehr auf deinen artrosegeplagten Knien sitzen wollen, weil du schon nach alt und arm riechst und ihnen kein Geld mehr geben kannst, dann stierst du auf die dürre Weihnachtskarte, die sie auf Befehl ihrer Eltern lieblos hingekrakelt haben und bemühst dich, an ihre ehrliche Zuneigung zu glauben. Du isst zum fünften Mal eine Portion von dem Gemüseeintopf, den du dir immer montags für die ganze Woche kochst, schaltest den Fernseher ein, guckst noch einen Moment zu, wie dich all diese dauergrinsenden Fröhlichkeitsidioten mit Zuckerguss übergießen und hängst dich am Gürtel deines mottenzerfressenen Bademantels auf. Das letzte, was du hörst, ist das Weihnachtslied `Fröhlich soll mein Herze springen´ des krakeelenden Kölner Knabenchors.“

     Samson ist nicht kleinzukriegen. „Die Botschaft der Nächstenliebe wird auch Zyniker wie dich irgendwann besiegen!“

     „Du hast in mir den größten Verfechter praktizierender Nächstenliebe“, konstatiere ich. „Die sollte aber natürlich sinnvoll sein. Was nützt ein Essen für Obdachlose, wenn ich sie anschließend wieder in die Kälte jage, wo sie bei Minusgraden auf der Parkbank verrecken? Mein Vater war gut in solchen Dingen! Der war Pfarrer in ein paar kleinen nordhessischen Gemeinden und lud jedes Jahr zu Weihnachten einen hilfsbedürftigen Menschen ein, zum Entsetzen meiner Mutter und uns Kindern. Ich erinnere mich an einen Obdachlosen, der so stank, dass sich die Kerzen bogen. Damals hatte ich kein Verständnis dafür, heute bewundere ich meinen Alten allein schon dafür, wie er sich gegen die verzweifelten Einwände meiner Mutter durchsetzte. Die ehrliche Freude dieser wirklich bedürftigen  Menschen, wenn sie einen Pullover und eine Manchesterhose bekamen, das war Weihnachten! Anschließend fuhr mein Vater die Jungs in eine diakonische Einrichtung in der Kreisstadt. Wenn wir uns darauf einigen können, das „Fest der Liebe“ auch tatsächlich im urchristlichen Sinne zu praktizieren, bin ich sofort dabei. Ansonsten ist Weihnachten so überflüssig wie die Bommel an der Mütze. Und so lange sich alles nur auf Konsumterror, Fressen, Saufen und nervige Verwandtenbesuche reduziert, bleibe ich bei der Ausrede, dass ich Weihnachten nicht feiern kann, weil ich als Kind beim Krippenspiel mal in mein Ochsenkostüm uriniert habe und seitdem traumatisiert bin. Das stand mal im `Playboy´, vor vierzig Jahren.“

      Na also - ein schiefes Grinsen zieht sich über Samson´s Schnauze. „Wenn ich genug Geld hätte“, sinniert er, „würde ich allen armen Eseln auf der Welt gestrickte Ohrenschützer schenken, damit sie im Winter nicht frieren. Und eine Kerze, die sie sich dazwischen stellen können. Ein wärmendes, wollenes Wams vielleicht“, träumt er vor sich hin, „einen Muff für die Vorderhufe und handgestrickte  Söckchen für hinten. Und eine Krippe mit einem kleinen Eselfüllen in Windeln gewickelt…“

     „Ja ja“, unterbreche ich ihn, „du spinnst ja! Im Übrigen, wenn du Geld brauchst, schreib´ einfach ein Weihnachtslied! Da steht das Klavier! Ein paar Akkorde mit einer Melodie, die über Terzen nicht hinausgeht, ein bisschen weihevolles Gejammer, ein Zwischenstück in Moll – fertig! Dann hast du die Garantie, jedes Jahr im Januar Kohle zu bekommen, weil es im Advent bis zum Erbrechen gesendet wird und dir in Supermärkten als Endlosschleife den Spaß am Einkauf versaut. Cliff Richard, John Lennon, Rod Stewart, Noddy Holder von `Slade´… wahrscheinlich hätten denen schon ihre Christmas-Songs für ein sorgenfreies Leben gereicht. Wie bei den ganzen Montagsliedern. John Phillips von den `Mamas & Papas´- der könnte heute -so er denn  noch leben würde- allein von den Tantiemen Federn in die Luft blasen, weil `Monday Monday´ jeden Montag weltweit in den Radios gespielt wird. Oder Bob Geldorf mit `I don´t like Mondays´. Ein genialer Schachzug! So ein Song sichert dir ein lebenslanges Auskommen!“

      Samson hämmert begeistert seine kurzen Vorderstumpen auf die Couchdecke. „Geil ey! Das machen wir! Super Idee! Ich hab´ schon was:

     Schon lange vor den Weihnachtstagen

                suchst du Geschenke für die Blagen.

     Darth Vader von den Star Wars-Deppen

                darfst du zur Bescherung schleppen.

     Der Enkel will nur deine Kohle

                für eine neue Spielkonsole.

     Riech´ ich Weihrauch oder Myrrhe,

                sauf´ ich lieber Rotweinplürre…

 Meinst du sowas in der Art?“

     „Naja“, bremse ich seinen Enthusiasmus, „ein bisschen intelligenter darf´s schon sein. Schlaf mal drüber. Und jetzt mach mal die Glotze an, da kommt `Sissi - Schicksalsjahre einer Kaiserin´. Besoffen genug sind wir, um das zu ertragen!“ Ich stelle ihm einen Napf mit Bratäpfeln hin, dazu eine selbstgemachte, raffinierte  Apfel-Möhren-Sauce.

     „Frohe Weihnachten, mein Freund!“