Reisebericht

Cornwall 2016


Vorgeplänkel

    „Wo willst´n du hin?“ Samson verfolgt von seinem Fensterplatz mit wachsender Nervosität, wie ich meinen Rucksack packe. Wenn ich eine Taschenlampe darin versenke, kann er sich denken, dass ich längere Zeit weg bin. Doch erst, als ich einen vollgestopften Koffer die Treppe runterwuchte, fangen seine schwarzen Knopfaugen an zu flackern und zeigen aufsteigende Panik.
    „Fährst du weg?“, fragt er ängstlich um gleich hinterher zu legen: „Ich will mit!“
    „Ich fahre für ein paar Tage nach England“, erkläre ich ihm ruhig. „Nach Cornwall. Mal abschalten!“
    „Ich will auch abschalten! Ich muss dringend abschalten! Ich schalte mit ab! Ooh- wie ich abschalten kann! Du wirst staunen, wie ich abschalte, wenn ich erstmal…“
    „Halt´s Maul“, fauche ich, „du bleibst hier! Jedes Mal das Theater! Ich mache mich doch nicht lächerlich mit dir! Ein erwachsener Mann, der einen Stoffesel mit sich rumschleppt! So viel Englisch kann ich gar nicht, um im Hotel zu erklären, warum ich einen angedickten Schaumstoffklumpen mit auf´s Zimmer nehme! Das Gemecker vom letzten Mal brauche ich nie wieder! Da hast du mir auf der Allgäu-Tour auch vorher versprochen, dass du ohne Jammern im Auto bleibst und hast mir dann jeden Abend die Ohren vollgejault, warum ich dich nicht mit ins Hotel nehme und du würdest dir nachts den Arsch abfrieren und bla bla bla!“
    „Ich bin ein Kissen!“, kreischt er, „ich bin als Kissen konzipiert! Extra für Hotelbetten! Du kannst sagen, dass du Sodbrennen hast und im Sitzen schlafen musst und deshalb noch ein Kissen brauchst, weil´s in England keine richtigen Kissen gibt, die sind alle nicht dick genug und gerade im Süden von England sind sie ja bekannt für flache Kissen und ich mach´ dir auch keinen Ärger und ertrage es wortlos, wenn du mich nach vier Guinness im Schlaf vollsabberst, weil du dann immer mit offenem Mund schläfst und das Schnarchen macht mir auch nichts aus, ehrlich- ich versprech´s ganz fest und ich will immer lieb sein!“ Und nach einer kleinen Pause mit schräg gestelltem Kopf und herzerweichendem Blick: „Bitte! BITTEEE!“
     Er weiß genau, wie er mich rumkriegt, der kleine Sauhund! Wenigstens fängt er nicht an zu heulen! Das kann ich gar nicht ab!
    „Also gut“, sage ich, „aber wehe, du fängst an rumzuzicken! Dann stopfe ich dich in den Kofferraum und stelle einen Kasten Bier auf deine Weichteile! Klar?“ Die Erleichterung ist ihm anzumerken.
    „Geht klar, Chef! Mach´ ich! Kein Zicken, kein Jammern, nur Liebsein! Never complain! Okay!“


1. Tag (Samstag)                                   Calais / Dover / Rye / Keith Richards / New Forest

    Wir fahren kurz nach Mitternacht los. In „Hucky“, meinem Hyundai i30 CW Special Edition, ist die Rückbank frei geblieben und Samson wirft sich gleich mit den Worten:
    „Du fährst besser ohne mein Geschwafel! Mach´ die Musik nicht so laut! Und schlaf´ bloß nicht ein!“ auf die dort liegende Decke. Wir haben das Ortsschild noch nicht erreicht, da pennt er schon!
     Ich möchte früh in Calais sein und damit früh auf der Insel. Das erste Highlight eines Englandtrips ist das Auftauchen der weißen Klippen von Dover in der frühen Morgensonne. Dass daraus nichts wird, liegt am dichten Nebel, der mir ab Dünkirchen eine Orientierung unmöglich macht. Da es hier an der belgisch-französischen Küste öfter mal nebelt, ist es absolut unverständlich, wieso man die Hinweisschilder zum Terminal hoch über die Straße hängt und nicht zusätzlich auf den Asphalt malt, bzw. in Sichthöhe an den Straßenrand stellt! In den Augen der Franzosen ist jeder selber schuld, der nach England will und muss bestraft werden! Da auch das Navi nicht auf entsprechende Eingaben wie „Calais Terminal“ reagiert, stochere ich im Nebel rum und lande irgendwie an den Mauthäuschen zum Eurotunnel. Die wollen 198 Euro für eine einfache Fahrt und können mich natürlich am Arsch lecken. Ein Eurotunnelmauthäuschenscherge läuft im Dunst vor „Hucky“ her, um mir den „Way out“ zu zeigen. Da stehen wir jetzt auf einem Parkplatz im Niemandsland, einen grauen Vorhang um mich rum. Ich versuche es mit dem Kompass. Da ich weiß, dass der Eurotunnel im Westen liegt, fahre ich Richtung Osten. Irgendwann ahne ich Häuser. Das muss Calais sein! Immerhin!
     Daaa! – ein gassigehender Mann mit Hund am Straßenrand. Auf meine englische Frage antwortet er ebenfalls auf Englisch! Dass ich das noch erleben darf: ein englischsprechender Franzose! Er erklärt mir griffig, wie ich zu den Docks komme und dank der exakten Wegbeschreibung stehen Hucky, Samson und ich kurz darauf in der Warteschlange zur Fähre. Dieser Mann mit Hund war -ich schwöre!- der erste hilfsbereite Franzose, den ich bei meinen vielen Besuchen dieses Landes getroffen habe. Egal ob in den Vogesen, in Paris, im Zentralmassiv, in Bordeaux – überall lässt man die Deutschen auflaufen, sobald man sie als solche identifiziert hat. Wer kein Französisch spricht, hat verloren! In der Bretagne und an der Côte d´Azur sind sie etwas freundlicher, weil sie sonst kein Geld verdienen, aber im Normalfall zeigt sich der Franzose Deutschen gegenüber hochnäsig und immer noch unversöhnlich. Der rührend-niedliche Versuch des Händchenhaltens von Kohl und Mitterand hat daran auch nicht viel geändert. Immerhin hatte man vor Mitterand mit Giscard

d´Estaing einen gebürtigen Deutschen zum Staatspräsidenten gewählt, was erstaunt!

     Ich bin froh, als ich aus dem Bauch der Fähre auf´s Oberdeck komme. Gott sei Dank ist es eine englische Fähre. Die französischen sind dreckig, ungepflegt und das Personal behandelt einen von oben herab. Da ist der Engländer anders. Höflich und gentlemanlike antwortet er auf jede gestellte Frage und erkundigt sich zum Beispiel, ob man den Kaffee mit Milch oder mit Sahne haben möchte. Dafür gibt´s natürlich auch Trinkgeld. Auf englischen Fähren bekommt man den Kaffee in Tassen überreicht, bei den Franzosen im Pappbecher auf´s dreckige Tablett geklatscht!
     Heroisch trotze ich dem rauen Seegang auf dem leeren Oberdeck. Samson musste natürlich im Auto bleiben und bekommt so nicht mit, dass es immer heller und freundlich wird, je näher wir dem Land der Angelsachsen kommen. Mich überkommt Euphorie! So muss sich Caesar gefühlt haben, als er sich den Klippen näherte, um dann die Kiele seiner Eroberungsflotte etwas weiter östlich bei Deal in den Strandkies zu graben. Das Weiß der „Cliffs of Dover“ strahlt mit einem leichten Orange in der späten Morgensonne, als sich die Fähre in das unüberschaubare Gewirr des Hafens wühlt. Zeit, wieder in das Unterdeck zu Hucky abzutauchen.
    „Moses 2, Vers 18“, begrüßt mich Samson von seinem Platz auf der Ablage mit bissigem Unterton,  als ich zum Auto zurückkomme.
    „Und was steht da“, frage ich, obwohl ich es eigentlich gar nicht wissen will.
    „Es ist nicht gut, dass der Mensch allein sei!“ Und weil er meinen Einwand ahnt, schiebt er gleich hinterher:
    „Ich bin genauso gut wie ein Mensch!“ Ich ignoriere ihn und fahre vorsichtig aus dem Bauch der Fähre. Sobald der Pott an der Kaimauer liegt, geht es schnell. Die Hydraulik des riesigen Tores setzt sich in Gang und schon quält und quillt eine Endlosschlange von Fahrzeugen aller Art aus dem Ungetüm. Über steile Rampen, Brücken und Roundabouts (die englischen Kreisel) ist man schnell im unteren Teil von Dover, wo sich der Verkehr teilt. Ich fahre hoch auf die Klippen und dort Richtung Folkestone, weil ich mir das Denkmal für die Piloten der „Luftschlacht um England“ angucken will. Die Anlage ist beeindruckend. Der steinerne junge Kerl in seiner Bomberjacke, der auf einem stilisierten Propeller von 80 Metern Durchmesser sitzt, guckt träumend in Richtung Frankreich, von wo damals die deutschen Messerschmidt 109 anflogen. Figur, Haltung und Gesicht strahlen eine tiefe Sensibilität aus. Das Angucken ist kostenlos und hat sich durchweg gelohnt.

     In Folkestone muss ich tanken, ansonsten spare ich mir den Ort. 1971 hatte ich gerade 3 Wochen den Führerschein, als ich in dem Seebad Urlaub machte. Seitdem bin ich englandinfiziert und fahre immer mal wieder durch die Straßen, wenn ich mit dem Auto auf der Insel bin. Heute nicht! Heute will ich nach Rye, einem ehemaligen Hafenstädtchen mit mittelalterlichem Charme. Paul McCartney wohnt nur ein paar Meilen westlich von Rye und kauft hier gelegentlich ein. Das Dorf ist interessant, aber nicht spektakulär. Über die mit grobem Kopfsteinpflaster belegten Gassen hat man den Rundgang schnell beendet und ich brumme weiter Richtung Westen. Mein Ziel ist West Wittering südwestlich von Chichester, wo am Arsch der Welt „Redlands“ liegt, die Farm von Keith Richards. Die „Redlands Lane“ ist ein kurzer Feldweg, der zu einem riesigen, grauen Stahltor führt, welches das Anwesen vor Neugierigen wie mir schützt. Rechts des Weges knallen tausende blühender Osterglocken in der späten Nachmittagssonne. Ein älterer Spaziergänger  fragt mich, ob ich ein Fan der Rolling Stones sei und erzählt, dass Keith Richards die Farm immer noch gelegentlich bewohnt, wenn er in England ist. Und er sei immer freundlich und cool drauf. Warum denn auch nicht, denke ich mir. Soll er muffig und schlecht gelaunt durch die Gegend rennen und sich darüber ärgern, dass er zu den Superreichen gehört? Außerdem war er sowieso immer ein geerdeter Typ, wie man liest und hört.
     Ich fahre zurück nach Chichester, um mir unterwegs ein Bed & Breakfast zu suchen. Problem ist, dass es dunkel wird und beim Vorbeifahren sind die kleinen Schilder nicht zu sehen. In Lyndhurst im Herzen des „New Forest“ rechne ich mir die besten Chancen für eine Unterkunft aus, weil  dieses Touristengebiet im März bestimmt nicht sonderlich überlaufen ist. Großer Irrtum! Nach vergeblichem Klingeln an zehn verschiedenen Türen in Ashurst und Lyndhurst richte ich mich schon darauf ein, im Auto zu schlafen, obwohl das bei fünf Grad minus bestimmt kein Vergnügen wird! Ein bissiger Guesthouse-Betreiber in der Romsey Road hat zwar Zimmer frei, vermietet aber nur „Double Rooms“ für 100 Englische Pfund und ist auch trotz meiner inständigen Bitte nicht bereit, auf 60 Pfund runterzugehen. Dafür hätte ich ja auch nur ein Bett belegt. „So sorry, Sir!“ Ein Arschloch!
    „Dann nimmste mich halt als Kopfkissen“, versucht Samson mich aufzumuntern, „und dann kuscheln wir ein bisschen!“ Der Gute bekommt auf seinem Logenplatz am Heckfenster nicht mit, wie es draußen empfindlich kalt wird. Der durchgehende Sonnenschein des ersten Urlaubstages täuscht nicht darüber hinweg, dass es erst März und damit fast noch Winter ist.
     Schräg gegenüber der letzten Absage liegt „The Penny Farthing Hotel“, das mir ein Zimmerchen für siebzig  Pfund (ca. 90 Euro) überlässt. Der „Boneshaker Room“ ist winzig und trägt den Namen am Türschild zu Recht. Aber egal. Froh, etwas gefunden zu haben, trinke ich noch zwei Guinness im benachbarten Pub „White Rabbit“ und genieße die erste Nacht in meinem Lieblingsland. Samson nehme ich mit ins Bett. Er guckt mich dankbar an, grunzt zufrieden und schläft noch vor mir ein. Nach fast 900 Kilometern ist mir auch die durchgelegene Matratze egal und ich schlafe tief und fest wie ein Abgeordneter im Bundestag.


2. Tag (Sonntag)                      Arthur Conan Doyle / Admiral Nelson / Durdle Door / Sidmouth

Das hervorragende Frühstück relativiert etwas den unverschämten Zimmerpreis. Ich schwelge in Spiegeleiern, Black Pudding (gebratene Blutwurst), gebackenem Schinken, Baked Beans, Brown Sauce, Brown Toast, Orangensaft, Kaffee und Orangenmarmelade. Selbst die ansonsten ungenießbaren Sausages (englische, fetttriefende Würstchen) haben einen guten Geschmack. Wirklich klasse und locker zehn Pfund wert! Drei junge Ladys schwärmen um mich rum und fragen ständig, ob sie mir noch etwas bringen dürfen.
     Pappsatt kratze ich die vereisten Scheiben von Hucky frei und schleppe Reisetasche und Laptop die steile Treppe nach unten. Samson teilt mir mit, wie gern er mit mir zusammen am Frühstückstisch gesessen hätte, aber ich ignoriere seinen versteckten Vorwurf. Die drei Bedienungen hätten sich sicher köstlich amüsiert und anschließend unter Weitergabe meines Autokennzeichens die Psychiatrie in Southampton angerufen! Ich stopfe ihn in eine Stofftasche und packe ihn erst im Auto wieder aus, was ihn erzürnt. Ob ich mich für ihn schäme, fragt er anzüglich. Aber auch darauf bekommt er keine Antwort.
    „Gib Ruhe!“, sage ich sanft. „Und denk an den Kofferraum und den Kasten Bier!“ Das hilft. Wortlos macht er es sich auf der Ablage im noch eiskalten Hucky bequem. Dann schließe ich wortlos den Hyundai ab und begebe mich auf einen ausgedehnten Morgenspaziergang in der klaren Luft des „New Forest“. Ich bin ihm keine Rechenschaft schuldig. Außerdem ärgert es mich, wie er schon wieder leise schleichend die alten Verhaltensmuster auspackt, trotz seines Antizickversprechens. Mein Ziel ist Minstead, wo sich auf dem Friedhof der „All Saints Church“ das Grab des von mir hochverehrten Sir Arthur Conan Doyle befindet. Die kalte, klare Luft macht die Birne frei. Sonnenwärme löst nach und nach die Nebelfetzen auf, die wie Schleier über den Sümpfen schweben und in meinem Kopf das Klischee eines englischen Moores befüttern. Der einstündige Spaziergang durch die faszinierende Landschaft begeistert mich!
     Das Grab finde ich erst nach dreimaliger Umrundung im hinteren Teil des malerischen Friedhofs unter einer alten Eiche. Auf dem Basaltsockel ist unter dem hoch aufragendem Kreuz eine Pfeife abgelegt worden, als Reminiszenz an seine wichtigste Romanfigur, den genialen Detektiv Sherlock Holmes. Hi, Conan, hast mir viel Freude bereitet mit deinen Geschichten und bist wahrscheinlich verantwortlich für mein früh entwickeltes Gerechtigkeitsempfinden und für meine Hartnäckigkeit bei der Lösung von Problemen. Danke für die Welt der Logik und der Schlussfolgerungen, in die ich mich hinein träumen durfte! Rest in peace!
     Die Kirche betrete ich durch eine uralte Eichentür, die gewiss schon ein paar Jahrhunderte auf den groben Eisenscharnieren hat. Im verwinkelten Inneren hat jeder Sitzplatz ein Kissen mit eingesticktem Motiv. Ein Fuchs, eine Glocke, eine stilisierte Burg, ein Schwert… Stammgäste, die Wert auf einen geordneten Gottesdienstablauf legen. Ich gehe mit leisem Bedauern. Das Ensemble aus Friedhof mit tausenden von Osterglocken zwischen den bemoosten Steinplatten sowie die anheimelnde Kirche macht mir das Verlassen schwer. Diesmal laufe ich entlang der schnurgeraden Hauptstraße zurück nach Lyndhurst, wo mich Samson im Auto mit Missachtung straft. Ist mir egal. Ich bin vollgepumpt mit Bildern im Kopf und möchte diese noch etwas genießen, ohne mich in kleinlichen Diskussionen mit einem Stofftier aufzureiben.
     Nach einem kurzen Blick auf die Karte beschließe ich, nach Beaulieu zu fahren, wo sich in der Nähe ein maritimes Museum befindet. Der Weg dorthin führt durch eine traumhafte Landschaft voller Wasserläufe und wilder Moorponys. Ich halte öfter an, um zu fotografieren. Die Straße wird zunehmend enger und hinter einer Kuppe lege ich eine Vollbremsung hin, weil sich mitten auf der Straße zwei Esel an den hohen Begrenzungshecken laben. Hucky schlingert auf die Gegenfahrbahn und dreht sich wieder in die Richtung, aus der ich gekommen bin. Samson regt sich furchtbar auf, weil ich a) beinahe seine Artgenossen totgefahren hätte, b) weil ich ständig viel zu schnell fahren würde, c) weil er sowas schon lange hat kommen sehen und d) weil er bei dem fahrerischen Coitus interruptus hinter den Beifahrersitz geflogen ist, wo ich ihn mit langem Arm wieder hervor hole. Ich hatte mich schon gewundert, dass seine Tiraden so dumpf klangen!
     An der Einfahrt zum Parkplatz des Museums steht ein kleines Kassenhäuschen mit einem älteren, uniformierten Herrn davor, der 9 Pfund verlangt. Eintritt und Parkgebühr.
    „That´s a lot of money! I´ll turn around!“, empöre ich mich. Der Livreeträger entgegnet mir mit unnachahmlicher Nonchalance, wie sie nur der englische Gentleman auf der Pfanne hat:
    „Live your life, Sir!“ Diese tolle Antwort bewegt mich zum Umdenken.
    „Is it recommendable?“, frage ich, “Ist es empfehlenswert?”
    “Oh yes, Sir!”, kommt die würdevolle Antwort. Also reiche ich einen Zehner durch´s Autofenster. Das Trinkgeld von einem Pfund lehnt er höflich ab und drückt mir die dicke Münze in die Hand, was mich wieder schwer beeindruckt. Bei dem Museum handelt es sich um ein Freigelände am Ufer des River Beaulieu, wo sich im 18. Jahrhundert eine Werft befand. Hier wurden Schiffe für Admiral Nelson´s Flotte gebaut. In den Häuserreihen aus rotem Backstein lebten die Werftarbeiter mit ihren Familien. In den mit alten Möbeln ausgestatteten Räumen sind Alltagsszenen mit lebensgroßen Puppen anschaulich und liebevoll dargestellt. Viel geschichtliche Information, Baupläne und Modelle von Segelschiffen machen den Besuch zu einem Erlebnis. Beim Verlassen des Parkplatzes beuge ich mich über den Beifahrersitz und rufe meinem Freund durch das offene Fenster zu:
    „Really great! It was worth the money!” (Großartig! Das war das Geld wert!) Er reckt mir beide aufgerichtete Daumen ins Auto, strahlt wie ein Junkie auf Koks und ruft:
   „Thank you, Sir! This is a big pleasure for me!“ (Danke, mein Herr! Das ist eine große Freude für mich!)

Ja, für mich auch. Solche Menschen machen Spaß!

     Die Weiterfahrt führt mich zur „Durdle Door“ bei West Lulworth. Dieser vom Meer durchbohrte Kalksteinfelsen an der „Jurassic Coast“ ist sehenswert, auch wegen der traumhaften Strände und Klippen, die ihn einrahmen. Vom Parkplatz auf der grünen Wiese (₤ 6,-) führen steile Wege zur Küste hinab, die aber gut zu bewältigen sind. Das sonntägliche Superwetter hat viele Besucher angelockt und macht den Besuch des imposanten Bogens zu einem absoluten Erlebnis. Tolle Fotos!
     Jetzt will ich zu den Eseln! Kurz vor Essex gibt es bei Sidmouth eine „Donkey Sanctuary“, eine Auffangstation für alte, verwahrloste und „ausgediente“ Esel. Diese Stationen gibt es europaweit, die irische und italienische habe ich bereits besucht und war begeistert von den unterschiedlichen Erscheinungsformen und den vielfältigen Charakteren meiner Lieblingstiere. Jetzt also die englische! Samson schlägt vor Begeisterung einen Purzelbaum auf der Ablage, als ich ihn mit der Ankündigung des Besuchs überrasche. Natürlich landet der Depp wieder zwischen den Sitzen. Weil er sich völlig verkeilt hat, muss ich extra anhalten, um ihn zu befreien.
    „Hör´ auf mit dem Scheiß“, fauche ich ihn an, „du bist zu alt für sowas!“
    „Ich komme natürlich mit zu den Eseln“, stellt er unbeeindruckt von meinem Anschiss fest, „Verwandte gucken!“
     Ich bin in einem fremden Land und habe nichts zu verlieren. Der Engländer liebt Menschen mit Spleens, er verehrt sie geradezu. Nachdem ich Hucky auf dem großen Parkplatz abgestellt habe, klemme ich mir Samson unter den Arm und gemeinsam betreten wir das Gelände, von dem ich gehört habe, dass es das größte in Europa sei. Samson zappelt vor Begeisterung, als er zwei Eselchen sieht, die mit roten Schleifenbändern behängt verstört vor sich hin stierend gleich auf der ersten Weide stehen. Sie reagieren weder auf meine Rufe noch auf Samson´s verschwörerisches Blinzeln, mit dem er den beiden wohl sagen will, dass er gleichen Blutes sei. Wir gehen weiter und finden - nichts! Keine Esel außer den beiden, kein wie auch immer geartetes Huftier auf den weitläufigen Weiden. Auch die Ställe sind leer. Große Enttäuschung!
    „Lass uns nochmal hinten rum gehen“, schlage ich vor, wenn auch ohne Hoffnung.
    „De nihilo nihil“, murmelt Samson vor sich hin, „aus Nichts wird nichts!“ Weil er unter meinem Arm klemmt, muss er aber trotzdem mit. Der Versuch bleibt erfolglos. Vor dem Restaurant sitzen ein paar Familien mit Kindern. Ich frage einen jungen Vater, der auf einen Stall im hinteren Bereich des Geländes verweist:
    „There are lots of!“ In der Tat fressen dort unter Rotlichtlampen vier dem Umfallen nahe „Lots-of“ vor sich hin, hinter hohen Gittern unerreichbar für Streicheleinheiten. Samson´s Lockrufe auf Deutsch lassen sie noch nicht mal die Köpfe heben, aber auch sein englisches „Come on, come near for stroking!“ beeindruckt die Verrecker nicht. Frustriert gehen wir zu Hucky zurück und brummen die paar Kilometer nach Sidmouth runter, ein Seeort mit Promenade, wo ich nach einigem Suchen und netten Hinweisen ein prima Guesthouse finde. Hier die Adresse, weil sehr zu empfehlen: „Canterbury House, Salcombe Road, Sidmouth, East Devon“. Marc, der Housekeeper, überlässt mir ein Doppelzimmer für 50 Pfund, die preiswerteste Übernachtung auf der gesamten Tour. Alles ordentlich, alles sauber, nette Gespräche, gute Tipps und erstklassiges Frühstück. Bestnote! Er verzieht auch keine Miene, als ich nach Nennung meines Namens Samson auf das zweite Bett setze und fragt nur:
    „Your pet, Gobby?“ – „Yes. He don´t want to stay in the car overnight!“ – “Too cold for him, isn´t it?” Damit ist der Fall erledigt. Wie gesagt: Engländer sehen Spleens als Lebensform. Samson fühlt sich wohl auf dem typisch englischen, barocken brokatbespannten Bett und erlaubt mir, das Städtchen allein zu erkunden. Sehr gnädig, der Herr! Nach einem Gang über die wenig ansprechende Seepromenade und durch den mövenverkreischten Ort lande ich im „Anchor Inn“. Von außen schön, aber innen keine Wärme und der geschäftige Barkeeper trägt seinen Teil zu der unpersönlichen Atmosphäre bei. Ich wechsele ins „Black Horse“ und gerate an eine ständig schwätzende Bedienung, die sich zu mir an die Theke setzt und mich dumm und blöd labert. Das kurze Bedienen eines zweiten Gastes nutze ich zur Flucht. Bezahlt hatte ich schon bei dem vierschrötigen Wirt. Auf dem Heimweg entere ich kurz vor´m Guesthouse eine Eckkneipe. Endstation! Noch ein Guinness und dann ins Bett. Es werden drei Gläser des herrlich malzigen Schwarzbieres, weil eine Gitarre in der Ecke steht und ich an der Theke ein paar Songs runterspiele. Die Peoples an der Theke  singen erfrischend mit und die drei Guinness gehen auf´s Haus. Ein schöner Abend. So muss es sein!


3. Tag (Montag)                                                 Dartmoor & Polperro

     Gut geschlafen, gut geduscht, das erwähnte gute Frühstück und herzliche Worte von Marc. Ich fahre Richtung Exeter, erspare mir aber die Stadt, weil ich sie samt der berühmten Kathedrale von 2014 kenne. Hier, im wunderschönen Restaurant des „White Hart Hotel“, begann der Anfang vom Ende meiner letzten langjährigen Beziehung. Aber das ist eine andere Geschichte. – Ich umrunde Exeter südlich auf dem M5 (M heißt Motorway = Autobahn) und gurke nach Bovey Tracey, dem Ausgangspunkt für Touren durch den geilen „Dartmoor National Park“. In Bovey Tracey ist im März leider der Hund verfroren! Hier wollte ich eigentlich mein Headquarter aufschlagen, um für die nächsten zwei Tage das Gelände zu erkunden. Aber kein geöffnetes Touristencenter, kein schöner Pub, keine Informationen über Accommodations (Unterbringungen), kein Nichts! What to do? Mein brillanter Geist erkennt Gottseidank nach kurzem Überlegen die Möglichkeit, eine Karte des Nationalparks zu Rate zu ziehen, auf der ich die mit einem Stern gekennzeichneten „Becky Falls“ anpeile. Daraus ergibt sich eine wunderschöne Fahrt durch traumhafte Landschaft auf engsten Straßen, wie ich sie bisher nur aus den schottischen Highlands kannte. Ich halte öfter an, um die Eindrücke fotografisch festzuhalten. Ganze Bergrücken leuchten mit braunem Heidekraut satt in der Sonne, aufgelockert durch das Weiß von Birkenstämmen und gelbblühenden Ginsterbüschen. Bis zu halber Höhe der Berge ziehen sich Laubwälder, deren vielfältige Grüntöne die Speicherkarte der Nikon gar nicht erfasst und die erst in der späteren Bildbearbeitung ihre Kraft entfalten. Eine archaische Landschaft, in die man sich hineinfallen lassen möchte und in der man darauf warten möchte, dass sie über einem zusammenschlägt!
     Mich überkommt eine unbändige Lust zum Wandern, aber ohne anständiges Kartenmaterial kann ich einen Haken daran machen. Hier ist menschenleere Wildnis! Zwar liegt immer ein Schlafsack in Hucky´s Kofferraum und ich käme mit Hilfe des Kompasses bestimmt auch irgendwo an, aber die Nächte sind ganz einfach noch zu kalt. Außerdem würde auch der Proviant nicht reichen. Bisher war ich durch jede Menge mitgenommener Frikadellen, belegter Brote, Fleischwurst und Konserven absolut autark, aber langsam dünnen sich die Vorräte aus. Bestimmt gibt es in den Bächen auch genug Forellen, aber die Zeit der Überlebenstouren hatte ich schon vor ein paar Jahren für beendet erklärt. Was früher ging, wird mit 63 Jahren zum Problem: man hüpft nicht mehr unfallfrei über dicke, nasse Steine und installiert selbstgefertigte Weidenreusen in schnellfließenden Bächen, um sich sein Abendbrot zu fangen.
     Also weiter zu den „Becky Falls“. Gerade erst öffnet der Parkplatz (10:00 Uhr), was mich schon stutzig macht. Ein Parkplatz bedeutet immer Organisation. Und richtig!: mich empfängt ein mitten in die urwüchsige Natur getackertes Besucherzentrum! Ja, leck mich doch am Arsch! 9 Pfund Eintritt für Natur, die jedem gehört! Da ich der erste Gast bin, nimmt sich das Betreiberpärchen viel Zeit, um mir die verschiedenen Wege rund um die Falls zu erklären, nicht ohne den Hinweis auf dümmliche, kinderanlockende Kleintiergehege, ohne die wahrscheinlich niemand käme! Den längsten Rundweg bringe ich schon für höchsten 4 Pfund hinter mich. Unbestreitbar ganz lauschig und hübsch, wenn sich der angepriesene Wasserfall auch als nicht sonderlich spektakulär erweist! Das Ganze ist total überbewertet und völligst überbezahlt, wobei man meiner Meinung nach für Natur sowieso kein Geld nehmen sollte. Aber das nicht informierende Informationszentrum muss ja schließlich refinanziert werden! Immerhin nehmen sich die Beiden nochmal Zeit, geben mir einen Cappuccino aus und zeigen mir auf meiner großformatigen Karte die Standorte weiterer Sehenswürdigkeiten.
     So komme ich zum „Haytor“, einer Bilderbuchfelsformation auf einem Hügel inmitten des gewaltigen Hochmoores. Das lohnt sich! Gern wäre ich hoch gelaufen, aber ein gerade ankommender Bus spuckt Horden schrabbelnder Japaner aus, die mit Aahs und Oohs auf den Felsen zeigen und dabei zum Teil noch spitze Schreie ausstoßen. Das verleidet mir von Vornherein den sicherlich schönen Aufstieg. Naturgenuss braucht Einsamkeit! Ich mache ein paar japanerfreie Fotos von dem Naturmonument und fahre weiter Richtung „Widecombe in the Moor“. Samson ist begeistert von den vielen Moorponys, die im hohen Farn oder an wassergefüllten Senken liegen oder mitten auf der windverwehten Straße stehen. Er hat sich in den Kopf gesetzt, mit einigen dieser wildlebenden Spezies über ihre fragwürdige Freiheit zu diskutieren. Er meint, man müsse was machen, einen Wohltätigkeitsverein gründen, quasi einen Pferdepflegefond für zwar freies, aber frierendes Vieh. Der ständige scharfe Wind, der über die hohen, kargen Flächen fegt, sei im Winter sicherlich noch unerträglicher und ihm blute das Herz, wenn er nur daran denken würde und deshalb wolle er in intensiven Gesprächen die Gefühlslage seiner entfernten Verwandten erkunden. Dann würden von den eingehenden Spenden Ställe gebaut. Das wäre das Mindeste, was er für seine neuen Freunde tun könne. Er quengelt so lange, bis ich ihn in der Nähe einiger dösenden Ponys in das kurze gelbe Gras setze.
    „Kommt mal alle her!“, höre ich ihn noch rufen, bevor ich mich auf den Weg zu einer Anhöhe mache, die von ein paar kleinen Felsen gekrönt wird. Das ihm in meiner Abwesenheit etwas passiert, ist nicht anzunehmen, weil um uns herum und bis zum Horizont nur Einsamkeit ist. Wenn überhaupt, werden die Ponys ihren verhinderten Wohltäter höchstens beschnuppern. Und selbst wenn sie ein wenig an ihm herumnagen sollten, verhindert das vielleicht weitere caritative Anfälle dieses Spinners.
     Auf der Anhöhe bietet sich mir ein grandioser Blick. In der endlosen, welligen Moorfläche blitzen  helle Tümpel auf wie funkelnde Juwelen und lassen morastige Sümpfe ahnen. Hier und dort ducken sich Reste eines verfallenen Steinhauses zwischen Hügel, Felsen und grob gesetzte Natursteinmauern. Kleingewachsene Krüppelkiefern (oder was ich dafür halte) bieten gelegentliche Anhaltspunkte für das weit schweifende Auge. Darüber thront ein grandioser blauer Himmel, in dem ein paar weiße Wölkchen wie flockiger  Badeschaum schweben. Hier ließ Arthur Conan Doyle seine Protagonisten Sherlock Holmes und John Watson den „Hund der Baskervilles“ jagen. Von der Düsternis der Landschaft, wie er sie beschreibt, ist heute zwar nichts zu sehen, aber man bekommt ein Gespür für das Unheimliche, das sich über das Land legen mag, wenn Nebel aufzieht und sich die Dunkelheit darüber legt. Man meint, dass er genau hier an diesem Punkt gestanden hat, als er notierte: „Über den grünen Wiesenvierecken und einem niedrigen Wald erhob sich in der Ferne ein grauer, melancholischer Hügel mit seltsam zerklüftetem Gipfel, trübe und unbestimmt wie eine phantastische Traumlandschaft“. Vor meinem geistigen Auge entsteht in einer bewaldeten Senke der beklemmende Bau des Domizils der Baskerville´s (ein paar Meilen weiter entdecke ich tatsächlich ein Herrenhaus, welches ohne Abstriche als Vorlage gedient haben könnte), haust der aus dem nahegelegen Gefängnis in Princetown (das gibt es wirklich!) entflohene Sträfling Selden in einem der verlassenen Ruinen und versinken Moorponys mit kläglichem Schrei im Grimpener Sumpf.
     Apropos Moorponys: als ich zu Samson zurück blicke, hockt er immer noch winzig klein auf dem gleichen Fleck. Die Ponys halten respektvoll Abstand. Da der Wind aus seiner Richtung kommt, höre ich seine leisen, zerfetzten Rufe. Ich reiße mich los und gehe gemächlich durch Ginster und Felsen hinunter zu dem wollenen Knäuel mit Ohren.
    „Oh, quantum est in rebus inane!“, seufzt er, als ich bei ihm ankomme.
    „Und das heißt?“
    „Oh, wieviel Leeres ist in der Welt! Persius, 50 vor Christus. Ich sprach mit ihnen huldvoll wie einst Franz von Assisi, aber sie folgten nicht meinem Rufe!“
    „Vielleicht haben sie dich ja doch verstanden, wollen aber keinen Spendenstall?“
    „Ignoramus et ignorabimus!“
    „Hey – !!!“
    „Jaja – ist ja gut! Wir wissen es nicht und wir werden es nicht wissen!“

     Der Rundgang durch „Widcombe in the Moor“ ist nach fünf Minuten beendet. Eine Handvoll Häuschen, ein Dorfplatz vor der Kirche, ein Restaurant mit Bar („The Old Inn“) und zwei Cafés. Nichts, was einem zum Bleiben veranlassen könnte. Über „Two Bridges“, eine zentrale Kreuzung im Herzen des Moors mit Luxushotel, fahre ich nordöstlich nach Postbridge, wo eine Steinplattenbrücke aus dem 13. Jahrhundert über den East Dart River führt, eine sogenannte „Clapper Bridge“. Tonnenschwere, flache Basaltplatten wurden auf Steinsockel gelegt, um den Bach trockenen Hufes überqueren zu können. Der Ort ist touristenleer und die Sonne steht genau richtig für phantastische Fotos. Das Flüsschen mäandert fröhlich blinkend zwischen flachen Ufern dahin, zwitschert über Steine und schlängelt sich um kleine, grüne Inselchen herum. Eine Bilderbuchatmosphäre! Ich greife Samson von der Ablage und setze ihn neben mich ins Gras. Gott sei Dank ist er feinfühlig genug, um mir nicht meine innere Ruhe und das Glücksgefühl zu zerquatschen. Nur einmal gibt er ein kurzes, scharfes Blaffen von sich, als ein grasendes Schaf sein Knickohr beschnuppert. Nach einer Wohlfühlweile genieße ich mit ihm unter´m Arm im „Postbridge Store“ gegenüber der Straßenbrücke einen Kaffee und Ingwerkekse. Die nette Inhaberin lässt sich nichts anmerken und gibt lediglich ein „Oh- a donkey! Lovely!“ von sich. Sie plaudert mit mir über die schlechte wirtschaftliche Lage der Einzelhändler und beschwört einen Verbleib Englands in der EU, weil ansonsten alles noch viel schwieriger würde. Ein schlaues Mädel! 
     Eigentlich will ich von hier weiter runter nach Plymouth, der Stadt der Seeräuber, von Sir Francis Drake und Walter Scott, aber Hafenstädte sind immer problematisch und Hucky ist voll mit guten Sachen. Im Kofferraum liegt die „Takamine“, eine Gitarre für 2000 Euro und leistet sich Gesellschaft mit meinem Laptop, der alles in sich birgt, was wichtig ist. Ich habe zwar manche Dateien auf Festplatte ausgelagert, aber ein Verlust wäre trotzdem dicke Scheiße! Also über Tavistock und Liskeard runter zum Meer. Looe ist ein mondäner Badeort und wird links liegen gelassen. Alles mondäne ist nichts für den alten Vater! Ich will Ursprünglichkeit und Natürlichkeit, will Ehrlichkeit und scheiße auf alles Vornehme, auf Protz, Gehabe und Getue! Und schon gar nicht will ich in einem teuren Restaurant astronomische Preise bezahlen, nur um an weißgedeckten Tischen hocken zu dürfen und auf ein paar alte Schabracken im Pelzmuff gucken zu können. Das Wort „mondän“ ist für mich absolut negativ besetzt! Mondän wird am besten mit „verblassender Glanz“ übersetzt.
     Polperro ist jetzt mein Ziel, ein malerisches Dorf am Meer. Da es nur von Anwohnern und Anlieferern befahren werden darf, parke ich außerhalb und laufe runter in den Ort. Samson will natürlich mit. Er hat sich in den Kopf gesetzt, dass ich ihn in den Rucksack packen soll, aus dem er oben schön rausgucken könnte. Ich erinnere ihn kurz an Kofferraum und Bierkasten und spüre noch lange seinen hasserfüllten Blick im Nacken, als ich mich von Hucky abwärts Richtung Küste entferne. Der Weg ist ziemlich weit, aber ist man erst mal im Ort, wird man dafür entschädigt. Das Dorf ist eine Waffe und erfüllt alle Klischees eines Rosamunde-Pilcher-Romans. Rund um den schnuckeligen Hafen werden enge Gässchen von weißgekalkten Häuschen flankiert. Alles ist klein, verwinkelt, gemütlich eng und authentisch. Natürlich auf Tourismus ausgelegt, aber trotzdem nicht auf Abzocke gebürstet. Ich fühle mich auf Anhieb wohl und beschließe, hier ein Zimmer zu nehmen. Im „Claremont Hotel“, The Coombe, werde ich für ₤ 58,- fündig und hole Hucky vom Parkplatz ins Dorf. Es wird mir immer ein Rätsel bleiben und es konnte mir auch noch nie jemand bei meinen europaweiten Trips erklären, warum Hotels immer anfangen, von oben zu belegen, selbst wenn man der einzige Gast ist. Das sehe ich am völlig leeren hoteleigenen Parkplatz. Hier schleppe ich Trolley, Laptoptasche, Verpflegungsbeutel, Samson und  Gitarre über die typisch englischen, rotzengen Treppenhäuser bis in den 3. Stock. Dafür muss ich mehrmals gehen und auf jedem Stockwerk eine Brandschutztür öffnen. Die junge Besitzerin bietet mir zwar ihre Hilfe an, aber a) lässt das mein Stolz nicht zu (blöd!) und b) überlasse ich Samson keinem(r) Fremden. Je nach Laune würde er sich anschwulen oder beißen! In der Fresstüte sind noch ein paar Ginger Nuts (Ingwerkekse), so spare ich mir ein teures Abendessen. In Great Britain sind die Restaurants abends noch teurer als eh schon am Tag.
     Ich schnüffele durch die Gassen und rund um den Hafen, Leider ist gerade Ebbe und die bunten Kutter liegen schräg im Schlick. Der Golfstrom sorgt für blühende Rosen an Häusern und Mauern, rundum ist es ordentlich und adrett. Über einen steilen Pfad komme ich auf Höhe und genieße auf einem wunderschönen Höhenweg einen traumhaften Blick auf die vorgelagerten Felsen der Küste, die sich hintereinander aus der Brandung erheben und in der Abendsonne viele farbliche Abstufungen aufweisen. Ich setze mich zwischen gelbblühenden Ginsterbüschen auf eine Bank, esse die letzten Reste der Mainzer Fleischwurst und bin glücklich und dankbar für dieses tolle Schauspiel. Samson schmollt im Hotelzimmer vor sich hin. Das hat er seiner Meckerei von vorhin zu verdanken! Selber Schuld! Dieses Highlight der Natur hätte ich ihm gegönnt. Ich bleibe, bis die Sonne im Meer ertrinkt. Als Brandung und Klippen die letzten Sonnenstrahlen einfangen, erklettere ich noch einen alleinstehenden Felsen und laufe dann gemütlich in den Ort zurück. Im „Blue Peter“, einer urigen, alten Schmugglerkneipe, fallen noch zwei Guinness in mich hinein. Kurz vor´m Hotel gibt´s noch das „Ship Inn“ mit einer für einen englischen Pub ungewohnten Ungemütlichkeit. Deshalb hier nur ein Guinness. Um 21:30 liege ich zufrieden im Bett und lasse die letzten Tage Revue passieren. Alles ist gut! Vor allem habe ich ein beständiges Hoch erwischt. Drei Tage Sonnenschein im März sind wie ein Jackpot! Auch Samson ist wieder versöhnlich gestimmt und schnarcht leise vor sich hin, während ich noch ein paar Zeilen lese.


4. Tag (Dienstag)                     Samson verliebt sich / Falmouth / Lizard Point / Penzance

Der Morgen beginnt mit einer kalten Dusche. Auch das ist auf der Insel nichts Ungewöhnliches. Im Sanitärbereich liegen sie nach wie vor weit hinter europäischem Standard zurück. Armaturen und Leitungen sind irgendwie zu klein geraten, oft mit weißem Plastik ummantelt und machen einen billigen Eindruck. Ich beschwere mich und erfahre nach wortreichen Erklärungen, dass der Warmwasserspeicher ja erst um 7:00 Uhr seine Tätigkeit aufnimmt! Und warum ich denn so früh aufstehen würde und so zeitig duschen wolle! - Geschenkt! Britischen Unzulänglichkeiten gegenüber habe ich ein großes Herz!
     In dem gewaltigen, viktorianischen Frühstücksraum sitzt Samson mit an einem Tisch, der seiner Bauart nach aus dem 17. Jahrhundert stammen könnte. Der Salon ist stilvoll eingerichtet und der Kamin wurde extra für mich angefeuert. Wohl schon vor sieben Uhr! Auch hier genießt Samson absolute Hochachtung. Die Besitzerin nimmt ihn hoch und krault seine dicke Schnauze.
    „Lovely! It looks like a good friend!“, lacht sie spitzbübisch, was ihn sichtlich erfreut. Die Gretel ist ein Schnuckelchen, aber noch lange kein Grund, ihr so verliebt auf den Arsch zu gucken, wie Samson das tut!
    „Full englisch breakfast for you? Tea or Coffee?” Sie verschwindet mit meiner Bestellung in der Küche und hinterlässt einen verklärt glotzenden Samson.
    „Mich ergreift, ich weiß nicht wie, himmlisches Behagen“, zitiert er aus Goethe´s „Tischlied“.
    „Oh, my God!“, ist alles, was mir dazu einfällt.
    „Lovely, hat sie gesagt! Ich bin lieblich! Ich bin ein Lieblicher! Sie liebt mich!“
    „Und was willst du mit ihr anfangen? So´n Mädel will befriedigt werden und das kannst du nicht!“
    „Schmusen will ich! Ich will geschmust werden! Lieb halten, ins Ärmchen nehmen. Das sind Werte! Du denkst ja immer nur an das Eine! Sie tät mich täglich küssen und mir sagen, wie schön ich bin!“
    „Du bist nicht schön! Du bist vielleicht liebenswert, aber nicht schön!“
    „Die schlechtesten Früchte sind es nicht, woran die Wespen nagen!“ Und nach einer kurzen Pause: „Ist von Gottfried August Bürger. Gedichteschreiber. 18. Jahrhundert. Der hat die Lügengeschichten vom Münchhausen  geschrieben und Balladen und so Sachen.“
    „Bis jetzt nagt noch keine…“
    „Das hab´ ich aber gern, wenn jemand an meinen Ohren knabbert. Du machst sowas ja nie bei mir!“
    „Ich knabbere gern an Ohren rum. Aber an solchen, wo vorher noch eine Bluse drum war!“ Samson schaut mich verächtlich an.
    „Du hast eine Einbahnstraße im Kopf“, konstatiert er. „Und das in deinem Alter!“
    „Wenn man über keine Libido verfügt, hat man gut reden!“, erwidere ich ungerührt.
     Die junge Lady kommt aus der Küche und stellt ein reichhaltiges Frühstück vor mich hin. Die Sausages hatte ich mir verbeten, dafür gibt´s mehr Schinken und ein zusätzliches Ei.
    „Mein Esel würde gern hier bleiben“, sage ich. „Darf ich ihn dir für das gute Frühstück schenken?“
     Sie lacht herzlich. „Danke, aber ich habe so viele Stofftiere (sie sagt: plushies), dass ich kaum noch Platz für ihn hätte. Mein Mann schenkt mir immer welche.“
     Samson fällt gerade vom Stuhl. Ich lasse ihn liegen, während ich in Ruhe das Frühstück genieße. Ich höre kein Wort mehr von ihm. Auch später im Auto, als wir schon Richtung Fowey River fahren, schweigt er. Als wir auf der kleinen Fähre den Fluss überqueren, frage ich:
    „Warum bist du denn eigentlich vom Stuhl gefallen? Weil sie verheiratet war?“
    „Du hättest mich verkauft!“, legt er los. „Für ein Linsengericht! Wie Esau in der Bibel! Mich, deinen Freund! Das werde ich dir niiiieee verzeihen!“ Leises Schluchzen.
    „Die Dummheit bietet selten Zinsen! Sonst leistete ja Esau nicht für einen Teller dicker Linsen auf seine Erstgeburt Verzicht! - Ist aus Albert Lortzing´s Singspiel `Der Waffenschmied´. Ich kann auch Zitate! Wenn ich mich recht erinnere, wolltest du doch in Polperro bleiben!“
    „Neiiin!“, kreischt er, „wollte ich nicht! Ich wollte dir damit zeigen, dass ich mehr Liebe brauche als ich von dir bekomme!“
    „Ich liebe dich doch“, beruhige ich ihn. „Du bist mein Lieblingsesel!“
    „Du zeigst es mir aber nicht!“, mault er trotzig. „Du nimmst mich nur widerwillig mit, du lässt mich stundenlang allein auf der Ablage hocken und nimmst mich abends nicht in den Arm! Ich will geliebt werden!“
     O je, o je, denke ich, zu viel weibliche Hormone. Zickenzank! Wenn er jetzt noch stundenlang telefonieren könnte, hätte ich genauso gut eine Frau mitnehmen können! Sein Verhalten ist klar gegen unsere Abmachung, aber es liegt wohl in seiner Natur, nicht ruhig sein zu können. Ich will diese (die Ruhe) aber haben und verspreche ihm, dass ich ihn beim nächsten Mal mitnehme, egal, wie blöd das aussehen mag.
    „Wieso blöd aussehen mag? Ich bin ein vollwertiges Mitglied der Gesell…“
    „Shut up, Bruder!“, unterbreche ich ihn. „Es ist gut jetzt! Sonst kommen doch noch Kofferraum und Bierkasten zum Einsatz!“ Das hilft erstmal wieder eine Weile, zumindest, bis wir in Falmouth sind. Ich nehme mir aber vor, ihn heute Abend beim Einschlafen in den Arm zu nehmen. Wenn´s ihm gut tut…

Schon gestern haben wir hinter Tavistock die Grenze nach Cornwall überfahren, dem eigentlichen Ziel unserer Reise. Jetzt stehen wir in Falmouth, der Hafenstadt auf einem Kap an der Mündung des Truro River, der hier aber schon mehr Meer ist. Ein weite, verzweigte Bucht im Norden und der in den Atlantik übergehende Ärmelkanal im Süden. Ein paar hübsche, georgianische Häuschen, ein paar Strände, ein Castle. Ich parke Hucky auf einem großen Parkplatz am Quarry Hill, laufe an den Quays der Nordseite entlang und dann quer durch das Städtchen zur Südpromenade. Dämlicherweise vergesse ich die Nikon im Auto, laufe aber nicht mehr zurück. Hucky macht mich auch nicht darauf aufmerksam, der alte Sack! Wahrscheinlich ist er hin und weg von dem schönen roten Mercedes-Cabriolet, das neben ihm steht! Samson habe ich klar gemacht, dass ich ihn ganz bestimmt nicht unter meinem Arm durch die Straßen trage, was er kommentarlos  hinnimmt. Ich stelle den Wagen aber so, dass er gute Sicht auf den kommenden und wegfahrenden Verkehr hat. In einem Strandcafé am Gyllingvase Beach trinke ich bei strahlendem Sonnenschein einen Cappuccino und gucke total entspannt der steigenden Flut zu. Wahrscheinlich habe ich in der salzigen Luft ständig zu hohen Blutdruck, aber es geht mir super! Ick freue mir wie Bolle, würde der Berliner sagen.
    „Where you´re from?“, unterbricht eine ältere Dame meine Wohlfühlgedanken.
    „From Germany, Ma´am“, antworte ich höflich, stehe auf und biete ihr formvollendet einen Stuhl an dem kleinen Bistrotisch an. Man ist ja schließlich Botschafter seines Landes!
    „Oh- Germany! Nice country, isn´t it?” Sie ist eine dieser herrlich altertümlichen, englischen Ladies, die mit riesigem Hut, paisleygemusterter Damenweste, gehäkeltem Spitzendeckchen um die dürren Schultern  und Spazierregenschirmstock auf Promenaden flanieren. Ich schätze sie auf siebzig. Es entwickelt sich ein reizender Dialog über Deutschland. Sie war mit ihrem Mann mal in Heidelberg, auf Schloss Neuschwanstein und der Loreley und alles war furchtbar „lovely“! Sie ist entzückt, als ich ihr die Vorzüge Englands aufzähle und was ich an ihrer Heimat alles mag: die Traditionen, die Historie Englands, die Reste des Commonwealth, die noch überall zu finden sind, die Baustile von Tudor bis victorianisch, das englische Frühstück, Fish & Chips, Malt-Vinegar (Malzessig), Brown Sauce, Ginger Nuts (Ingwerkekse), Afternoon Tea mit Scones, die Pubs mit den vorgesetzten, bunten Holzfassaden und den goldglänzenden Zapfanlagen, Herrenhäuser, botanische Gärten und und und…
     Wir haben ein tolles Gespräch, sogar noch, als sie erzählt, dass ihr Mann vor zwölf Jahren zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Natürlich unschuldig, ist klar! Sie wartet auf ihn, ist ihm aber nicht unbedingt treu geblieben in all den Jahren. Aber sie hofft, seine Entlassung noch zu erleben. Ich gehe nicht weiter darauf ein, weil ich den Eindruck habe, dass sie mich ganz gern mit nach Hause nehmen würde („Could you imagine to stay another night in Falmouth?“). Ich verweise auf einen strammen Zeitplan und dass ich noch viel sehen möchte, bevor ich Freitag die Insel wieder verlasse. Sie gibt mir eine Telefonnummer und ich muss ihr versprechen, sie anzurufen, sollte ich die nächsten Tage nochmal nach Falmouth kommen. Wir verabschieden uns herzlich, bevor sie damit beginnt, die ständig hungrig kreisenden und kreischenden Möwen zu füttern, was meines Wissens nicht erlaubt ist in Good Old England! Ich kann mich aber irren.
     Eigentlich wollte ich noch über die Cliff Road zum Castle latschen, aber die Stunde mit der Lady fehlt mir jetzt. Ich gehe durch die Stadt zurück, komme am Bahnhof vorbei und dichte unterwegs den Text für die diversen Ansichtskarten, die ich immer aus dem Urlaub an Freunde schreibe und zu dem mich die nette Lady inspiriert:

    Solange ich noch nicht erlahme, such´ ich eine alte Dame
    mit einem Häuschen hier am Meer!
    Ich täte sie auch täglich küssen, dafür würd´ sie bezahlen müssen -
    Ich finde, das ist mehr als fair!
    Solange sie das Bier mir löhnt, wird sie auch anderswo verwöhnt…

Das rote Mercedes-Cabrio ist gottseidank weg, sonst hätte Hucky vielleicht auch noch angefangen, verliebt rumzuspinnen! Das nächste Ziel ist „Lizard Point“, der südlichste Zipfel Englands. „Lizard Point“ liegt exakt auf dem 50. Breitengrad, genau wie Mainz. Allerdings umschmeichelt hier der Golfstrom die Küste, was er beim Mainzer Dom nicht tut! Es ist sackwarm heute. Ganz Südengland ist voller blühender Osterglocken und auch hier säumen die knallgelben Frühlingsblumen die engen Straßen wie bunte Leitplanken.
     Da ich nicht weiß, ob es am Point einen Parkplatz gibt, lasse ich Hucky in dem Örtchen „Lizard“ stehen, etwa 1 Kilometer vom Felsen entfernt. Samson stopfe ich in den Rucksack, so dass seine dicke Schnauze oben rausguckt  und laufe auf dem besseren Feldweg bis an die Klippen. Ein paar Autos fahren an mir vorbei und verraten einen Parkplatz am Ende der Welt. Außer, dass hier am 19. Juli 1588 die spanische Armada gesichtet wurde, hat der Ort nichts Besonderes und ist wie das Nordkap in Norwegen nur von geografischem Reiz. Da glotzt man nach 3000 km Fahrt auch nur auf´s Meer und wenn´s nebelig ist, wie bei mir in 1978, sieht man gar nix! Schöner ist hier der Weg zurück, links über den Küstenpfad am Leuchtturm vorbei. Spektakuläre Ausblicke in die Tiefe auf herrliche kleine Sandstrände, die sich in die Felsbuchten schmiegen. Ich sitze ziemlich lange hart an der Klippenkante im Gras und gucke auf´s Meer. Irgendwann lege ich mich auf den Rücken, nehme Samson in den Arm und penne weg. Soweit ich nach rechts und links sehen kann, ist der Pfad leer und deshalb kann sich auch niemand über den bescheuerten Touristen wundern, der mit einem Stoffesel im Arm an Englands südlichstem Punkt ein Nickerchen macht. Als ich aufwache, ist fast eine Stunde rum und der Wind weht frisch und biegt die Grasbüschel nach Osten. Für den nächsten Englandtrip werde ich mir mal drei Tage Wanderung auf dem „Coastal Path“ vornehmen. Am besten mit Schlafsack. Die Sandstrände vor den schwarzen Felsen sehen aus wie Kleckse einer Cognacsauce an einem verbrannten, angebissenen Steak und eignen sich hervorragend für einen Schlafplatz mit Feuerchen und einer Flasche Wein. Nach einer anstrengenden Wanderung direkt am Meer mit Brandung in den Ohren einzupennen –

that´s it! Der Schlafsack liegt im Auto, aber es hat nachts leider immer noch minus drei Grad, sonst wäre dies eine Alternative zu den teuren Hotels gewesen.
     Wärmer ist es draußen vor einem Imbiss, als ich in Lizard neben einem Giftshop (Geschenkeladen) einen Kaffee in der Sonne trinke. Zwei Pfund. Das ist erstaunlich preiswert für einen weltweiten Hotspot! In Deutschland stünde wegen Ignoranz, Arroganz und Faulheit ein Schild mit dem Text: „Auf der Terrasse servieren wir nur Kännchen!“ auf dem Tisch und damit hätten sie mich sofort als Gast verloren, selbst wenn ich zwei Tassen trinken wollte! Überhaupt fällt auf, dass der Gast in England einen ganz anderen Stellenwert hat. Hier ist man bei Bestellungen nicht lästig, sondern stößt (fast) immer auf Herzlichkeit und freundliche Gesprächsbereitschaft. Kein Muffigsein, kein Genervtsein, keine Unaufmerksamkeit, kein Herumgehetze, wie dies bei uns oft der Fall ist. Dazu ein höfliches „Yes, Sir“ oder „I´m sorry, Sir“ und schon fühlt man sich als Gast für vollgenommen und nicht nur als Abzockopfer.

     Vierzig Meilen (ca. 60 km) sind es von Lizard bis nach Penzance. Dort liegt bei Marazion der Küste vorgelagert das Inselchen „St. Michael´s Mount“, welches ich zu besichtigen gedenke. Dafür ist es aber heute schon zu spät und ich suche mir lieber rechtzeitig eine Unterkunft. Mittlerweile bin ich der Meinung, dass man lieber zehn Pfund mehr bezahlen soll, als lange rumzugurken, um was Preiswerteres zu finden. Mit dieser manifestierten Überzeugung entere ich das Glenleigh House in Marazion, bin aber positiv überrascht, dass das Zimmer nur ₤ 65,- kostet. Das sind ja auch immerhin 80 Euro, aber für England… Es ist noch relativ früh am Nachmittag und gerade Ebbe, so dass ich trockenen Fußes über einen Plattenweg, den Causeway, zur Felseninsel käme, entscheide mich aber für einen Spaziergang ins 4 Meilen entfernte Penzance. St. Michael´s Mount mache ich morgen. Samson ist zufrieden mit dem Zimmer und will nicht mit auf den Trip, auch weil ihm -wie er sagt- der Rand vom Rucksack die Luft abschnürt. Ich schalte ihm den briefmarkengroßen Fernseher ein, damit er sich nicht langweilt und gehe über die Hauptstraße hinunter zum Strand. Der erstreckt sich wunderschön bis fast nach Penzance und man hat während des Laufens im weichen Sand einen ständigen Blick auf die beeindruckende Kulisse der Inselfestung.
     Penzance selbst wirkt auf mich befremdlich. Irgendwie seltsam, ohne dass ich es richtig erklären kann. Mir fehlt die typische Atmosphäre eines Hafenstädtchens. Dem Kaff fehlt etwas adrettes, herzliches, gemütliches. Kein Wohlfühlort! Auch das Gelände um den Hafen herum ist bar jeder  Infrastruktur. Ich kaufe ein paar Ansichtskarten und schreibe sie mit dem Alte-Dame-Text vor der „Dolphin Tavern“ in der Sonne bei einem Pint Guinness. Praktisch, dass die rote Briefkastensäule gleich daneben steht. Hier funktioniert die Post noch. Briefkästen und Telefonzellen findet man an jeder Ecke! Ein kurzer Spaziergang durch den alten Ortskern ändert meine schlechte Meinung nicht. Einzig die grünen golfstrombedingten Palmen bringen etwas Farbe in das Grau und das fahle Gelb der Backsteinmauern. Irgendwo esse ich Cod (Kabeljau) mit Chips. Auch die sind nicht unbedingt die Waffe, aber ich bin satt. Also über den Coast Path, der immer an den Gleisen entlang führt, wieder zurück nach Marazion. Unterwegs fällt mir auf, dass ich kein einziges Foto gemacht habe. Das ist an Aussagekraft nicht zu überbieten!
     Ich schaue kurz ins Zimmer meines B&B (Bed & Breakfast). Samson pennt bei laufendem Fernseher. Er hat wohl versucht, das Programm zu wechseln, kam aber mit seinen dicken Pfoten auf der mickrigen Fernbedienung nicht klar. Tja– ! Ich schleiche wieder raus und laufe noch mal runter zur Anlegestelle der Boote, von denen mich morgen früh eines übersetzen soll. In der Bar des Hotels „Godolphin Arms“ wehre ich mich nicht gegen zwei Guinness und ende im „Fire Engine Inn“ in der Nähe der Unterkunft (1 Guinness). Drei jüngere Kerle lassen mich beim Darts mitspielen, natürlich verliere ich haushoch, was mich aber anscheinend sympathisch macht. Sie reden viel und schnell mit mir und ich verstehe nur die Hälfte. Ich merke, dass es wieder mal ein Pint zu viel war (1 Pint= 0,47 l) und lege mich zu Samson ins Bett, der immer noch pennt. Mein Versprechen haltend nehme ich ihn nochmal in den Arm, was ihn im Schlaf zu einem wohligen Grunzen veranlasst. Das macht jetzt auch wiederum Spaß!


5. Tag (Mittwoch)        St. Michael´s Mount / Pendeen Lighthouse / St. Ives / Launceston

     Auch hier ist das Frühstück gut! Ich beeile mich, weil ich noch bei Flut mit dem Boot zur Insel will. Samson sagt, er ließe sich dieses Event auf gar keinen Fall entgehen und nimmt dafür in Kauf, dass ich ihn komplett in den Rucksack stopfe und zubinde. Auf dem kleinen Boot ist es noch empfindlich kühl. Als einzige Passagiere fährt ein deutsches Ehepaar mit, die auf meine Bitte ein Bild von mir machen. Samson strampelt im Rucksack rum und will raus. Ich tue ihm den Gefallen. Gottseidank hält er das Maul und macht einen auf schlaffes Stofftier.
    „Er will immer mit“, sage ich, ohne entschuldigend zu wirken. Und zu Samson gewandt: „Sieht du, das ist die Insel, von der ich dir erzählt habe!“ Die deutsche Frau guckt verstört an mir vorbei. Ihr Blick beißt sich an der Reling fest. Der vierschrötige Pappsack neben ihr stiert völlig verständnislos auf Samson, nur der Bootsführer lacht. Engländer eben!
    „My best friend“, sage ich zu dem Seemann.
    „Looks cute“, (sieht niedlich aus) sagt der und steuert auf den ummauerten Hafen zu. „Care for it!“
     Nach dem Ausbooten stelle ich den Rucksack auf den Kai und lege Samson oben drauf. Wohl zu nahe am Rand, denn das Vieh rutscht ab und fällt vier Meter tief ins Wasser des Hafenbeckens. Sofort tuckert mein Freund mit seinem Bootchen los und hievt das triefende Bündel an Bord seines Kahns. Ich klettere die steile Treppe nach unten zum Anleger und nehme Samson in Empfang.
    “I just told you to care“, lacht er, “but he can swim!” In der Tat trieb Samson auf den Wellen wie ein grauer Sack voller Korken. Wahrscheinlich wäre er auch vollgesogen nicht abgesoffen. Kaum sind wir wieder oben an der Kaimauer, plärrt er los:
    „Pass gefälligst auf! Du hättest mich töten können! TÖÖÖTEN! Ich kann nicht schwimmen!“
    „Brauchst du auch nicht“, entgegne ich ruhig, „hast ja genug Schaumstoff im Wanst!“
    „Ich erfriere“, krakeelt er rum. „Es ist März! Das Wasser ist arschkalt!“ Ein paar Meter weiter steht eine Bank in der Sonne, auf die ich mich mit ihm setze. Mehr kann ich momentan nicht für ihn tun. In den Seitentaschen des Rucksacks sind noch ein paar Scheiben Brot mit Red Cheddar belegt, die ich in den warmen Strahlen genieße. Hier, neben der Bank vor dem steinernen Hafengebäude, standen vor ein paar Jahren meine Freundin „Lisschen“, die Queen, und Prinz Phillip, um irgendetwas einzuweihen. Was, weiß ich nicht mehr, aber ein paar nachgemachte Fußabdrücke im Asphalt weisen auf die Stelle hin. Toll! Samson ist davon unbeeindruckt und versucht, in der Sonne wieder auf Temperatur zu kommen.
     Nach einer halben Stunde klettere ich mit dem Jammerlappen unter´m Arm an palmenbestandenen Wiesen vorbei den steilen Weg zum Castle hoch. Auch hier überall Osterglocken. Sieht klasse aus! Von den Felsen unterhalb der Burg bietet sich eine wunderschöne Aussicht auf den Hafen der Insel und die weiten Sandstrände, die sich von Marazion bis fast nach Penzance ziehen. Im Eingang zum Castle steht ein junger Mann in schwarzem Zwirn, der jeden Ankömmling per Handschlag begrüßt und sich als Sohn des Schlossbesitzers vorstellt, James St. Aubyn. Habe die Ehre, Sir! Mit einem Blick auf Samson fragt er, ob die Kinder noch nachkämen und die Felsen wären gefährlich.
    „No kids, Sir“, sage ich und drücke mich an ihm vorbei. Ich gestehe, dass ich mir in diesem Moment absolut blöd vorkomme! Vor Wut quetsche ich Samson ein bisschen mit dem Ellenbogen.  Er hechelt ein würgendes „Aua!“ in meine Armbeuge. Schön ist, dass man nicht an einen schläfrig labernden Fremdenführer angekettet ist, sondern eigenständig durch Zimmer, Kemenaten, Säle und Kapellen schnüffeln kann. Überall stehen auf Tafeln leicht verständliche Hinweise und Erklärungen und in den Ecken unauffällige Guides herum, die man notfalls fragen kann und die sehr freundlich und sauber Auskunft geben. Von dem ummauerten Außenhof hat man einen tollen Blick auf die darunterliegenden subtropischen Gärten und das heute tiefblaue Meer. Zurück zum Festland laufe ich über den schmalen Plattendamm, der mittlerweile frei liegt. Auch das ein Erlebnis!
     Der Trip zur Insel war nicht billig. Parkgebühr, Überfahrt und Eintritt summieren sich auf ₤ 25,-, aber das war es wert! Seit ich englandinfiziert bin, wollte ich hierher und da guckt man nicht auf die Kohle, wenn sich Wünsche erfüllen! Hucky ist heilfroh, als er mich mit Samson über den sonnendurchfluteten Parkplatz kommen sieht. Er verbrennt sich gerade schwer sein schwarzes Fell und hofft auf baldigste Fahrtwindkühlung. Die gebe ich ihm! Wir quietschen durch die Kurven nach St. Just, ein Katzensprung. Die meisten Touries fahren weiter nach „Land´s End“, der Südwestspitze Cornwalls. Dort kann man für ₤ 6,- parken, auf´s Meer und einen Leuchtturm glotzen und noch hundert Mal in seinem Leben erzählen, dass man dort war, was eh niemanden interessiert. Es gibt in ganz England keinen überflüssigeren Platz als „Land´s End“. In Privatbesitz(!), wie ein Jahrmarkt aufgezogen und eine Touristenfalle! Ich war schon mal 1972 dort, als es noch umsonst war! Und nochmal 2005. Seltsamerweise bin ich damals am St. Michael´s Mount vorbeigefahren!
     In St. Just ist nichts los. Ein normannischer Kirchturm, ein Fish & Chips-Laden, ein Pub, zwei Hotels. Ich bin schnell durch mit dem Dörfchen. Also weiter über die schweineenge Straße nach St. Ives. Dadurch, dass ich links sitze und lenke, komme ich öfter mal an meine Grenzen, vor allem, wenn mir auf 3 Metern Breite zwischen hohen Hecken oder Bruchsteinmauern LKWs oder Busse in unübersichtlichen Kurven entgegenkommen. Aber „Hucky“ denkt mit und Samson lässt von seinem Logenplatz auf der Ablage nur ein lässiges „Cool!“ hören.
    „Wenn du auch nix kannst, aber fahren kannste!“, blökt er in meine Richtung. Was für ein Scheißspruch! Dafür lasse ich ihn im Auto, als ich in Pendeen zu einem Leuchtturm abbiege und auf dem kleinen Parkplatz aussteige. Haha, der Depp hat immer noch nicht kapiert, dass ich der Master of Desaster bin! Sein Gezeter lässt mich kalt! Von den steilen Klippen seitlich der weiß gestrichenen Leuchtturmbauten hat man einen phantastischen Blick entlang der zerklüfteten Küstenlinie. Im Dunst erkennt man die Türme vereinzelter, stillgelegter Zinnminen. Auf einer Bank vor der hellen Umgrenzungsmauer sitzen zwei ältere Herren, genießen Ausblicke und die warme Frühlingssonne. Robin und Eric. Brüder, wie sich herausstellt. Wir sind schnell im Gespräch über die bevorstehende Abstimmung über den Austritt Großbritanniens aus der EU im Juni oder Juli dieses Jahres. Eric ist dafür, sein Bruder dagegen. Nach einer Stunde anregender Diskussion laden sie mich zum Tee in ihr Haus ein, was ich höflich ablehne. Aber ich habe das Gefühl, gute Freunde zu verlassen, als ich Hucky auf der schmalen Slackline weiter Richtung Norden tanzen lasse.
     Plötzlich öffnet sich in einer Rechtskurve vor mir eine Senke. Eine schmale Straße führt den Berg hinunter in einen Ort, der optisch anziehend wirkt. „Zennor“ heißt das Kaff und verfügt über einen Gasthof und eine normannische Kirche. Ich laufe einmal über den dazugehörenden Friedhof, mache ein paar Bilder mit der Nikon und entscheide mich für einen Cappuccino im „Tinner Arms“. Da drin ist es urgemütlich, leider hat die bildhübsche Wirtin äußerst schlechte Laune. Durch Zennor läuft der „South West Coast Path“, im Biergarten sitzen viele Wanderer und ich frage mich, wie man sich an solch einem exponierten Ort so eine Unfreundlichkeit leisten kann. Egal, nicht mein Bier! Aber die Kneipe hat mir gefallen! Im Nachhinein ärgere ich mich, dass ich nicht die paar Meter bis zu den Klippen gelaufen bin. Erst später zuhause habe ich auf Google Earth gesehen, wie interessant das gewesen wäre!
    „Wenn du dich irgendwann mal mit Aristoteles beschäftigt hättest, wüsstest du um dessen Grundprinzip“, empfängt mich Samson, als ich wieder in Hucky Platz nehme. Immer wenn er richtig sauer ist, haut er mir philosophische Sprüche um die Ohren, wohl wissend, dass ich mich gern mit Philosophie beschäftige. An manchen Abenden haben unterschiedliche Auslegungen schon oft für heiße Diskussionen zwischen uns beiden geführt.
    „Was meinst du denn? Sein Streben nach allumfassendem Wissen, oder was?“ Ich frage, während ich schon wieder zur Hauptstraße zurück fahre.
    „Ich meine seine Forderung nach größtmöglicher Glückseligkeit für alle!“
    „Und- weiter?“, frage ich und bin fest gewillt, mich nicht auf seine Spielchen einzulassen.
    „Für ALLE!“, trompetet er, „nicht nur für dich! Ich bin auch noch da, Mister Gobbson, Sir! Ein Spaziergang in der frischen Meeresluft hätte mir auch gut getan. Sein ist Wahrgenommenwerden, hat George Berkeley schon 1730 gesagt. Und du nimmst mich nicht wahr! Du bist ein Egoist, ein Schuft, ein Tagedieb, ein radika… hey, warum hältst du wieder an?“ Wortlos steige ich aus, öffne die Heckklappe des Combis, nehme den jetzt plötzlich ängstlich schweigenden Stoffklumpen von der Ablage und stopfe ihn zwischen Reisetasche und Bierkasten. Soll er sich ruhig an den Kanten etwas wehtun! Dann nehme ich die rote Schirmkappe, setze sie auf, deute mit dem Zeigefinger darauf und frage in die panisch aufgerissenen Knopfaugen hinein:
    „Siehst du das? Siehst du diese rote Kappe?“ Er kann nicht antworten, weil seine große Schnauze vom Griffbrett der Gitarre eingeklemmt wird. „Denk´ mal über unsere Abmachung nach! Du hast Zeit bis morgen!“ Wütend knalle ich die Klappe zu. Erst jetzt sehe ich die Bank, auf der eine junge Mutter mit zwei Gören sitzt. Alle drei starren mich mit offenem Mund an. Gottseidank haben sie mich nicht verstanden, aber selbst wenn… Ein Deutscher, der sein Stofftier anbrüllt! Jedenfalls habe ich wieder etwas für das Teutonenbild im Ausland beigetragen. Ich fahre weiter in Richtung St. Ives. Drei Meilen weiter tut er mir schon wieder leid, aber ich werde ein Exempel statuieren, jawoll! Nicht mit mir! Mit mir nicht!
     Das erste, was ich mache, als ich Hucky auf einem Parkplatz oberhalb von St. Ives abstelle, ist, dass ich Samson aus seiner misslichen Lage befreie. Er sagt kein Wort, als ich ihn auf der Ablage drapiere, Hucky abschließe und die paar Meter zur Haltestelle laufe, wo ein klappriger Oldtimerbus wartet. Die Stadt ist zwar für Autos nicht gesperrt, aber es wird geraten, den Shuttlebus zu nehmen, weil Parkplätze rar sind. Der verwahrloste junge Fahrer verlangt 70 Pence für das Ticket, ich gebe ihm 30 Pence Trinkgeld.
    „Are you sure?“, fragt er völlig entgeistert und freut sich wie Bolle, als ich dies bestätige. Während er sein Gefährt behutsam durch enge, gewundene Straßen in die Stadt hinunter fährt, bleibe ich neben ihm stehen. Er quatscht munter drauf los und erzählt mir seine halbe Lebensgeschichte, während ich eigentlich etwas über St. Ives in Erfahrung bringen will. Auf der Promenade oberhalb eines riesigen Sandstrands an der Westküste der Halbinsel ist die zentrale Busstation. Direkt vor der „Tate St. Ives“. Da will ich später noch rein. Von hier ist man in ein paar Minuten quer durch die Häuser auf der anderen Seite. Auch hier viel Strand und Sand, weil gerade Ebbe ist. Im Ort selber drängelt man sich durch vollgestopfte Gassen. St. Ives ist selbst für März gut besucht. Während einer Portion Fish & Chips in der Wharf Road an der Südostseite der Halbinsel gucke ich wieder mal den faszinierenden Verhaltensweisen der riesigen Möwen zu, bevor ich langsam zur Nordwestseite zurückschlendere.
     Die „Tate St. Ives“ ist geschlossen! Dieser Ableger des Londoner „Tate Modern Museum“ präsentiert moderne Kunst und ist weltweit bekannt. Und jetzt, gerade jetzt, nach 1500 km, ist der Kunsttempel wegen „Refurbishment“ (in etwa: Aufpolieren) geschlossen! Fuck you, all you greek Gods of Arts! Mein anarchistischer Busfahrer sieht mich vor der verschlossenen Tür stehen und winkt von der anderen Seite. Laut ruft er, ob ich wieder mit hoch zum Parkplatz wolle und er hätte extra auf mich gewartet, als er mich gesehen habe! Yes, I will! Eines meiner cornischen Hauptziele ist gerade vom aktuell sehr milden Golfstrom weggeblasen worden.
     Hucky brät ungeschützt in der warmen Sonne. Samson brät mit. Er schweigt, als ich das Navi aus dem Handschuhfach hole und als nächstes Ziel „Tintagel“ eintippe.
    „Und?“, frage ich, „biste mal zum Nachdenken gekommen?“
    „Glücklich ist, wer vergisst, was nicht mehr zu ändern ist“, brummt er in Richtung Heckscheibe. Das kommt meines Wissens in der „Fledermaus“ von Johann Strauss vor.
    „Leiden sind Lehren, hat schon Aesop gesagt. Sei froh, dass ich dich wieder unter dem Gitarrenhals hervorgeholt habe!“
    „Der Gerechte erbarmt sich seines Viehs“, brummt er mit unüberhörbarem Sarkasmus.
    „Bibel?“
    „Yes, Sir! Sprüche 12, Vers 10.“
    „Die Sprüche kannst du dir sparen“, ermahne ich ihn. „Sei froh, dass ich dich mitgenommen habe. Bei anderen würdest du irgendwo in Kinderzimmern hocken und von garstigen Gören gepeinigt werden. Lass es gut sein jetzt! Benimm dich einfach und gib Ruhe!“ Ich weiß, wie es jetzt in ihm arbeitet. Wie gern würde er mir noch was um die Ohren hauen und das letzte Wort haben, aber er schweigt tatsächlich, bis ich in Camelford von der A39 abbiege, um zu der legendären Burgruine von King Arthur zu kommen. Die Vorfreude ist groß, auch weil sie wohl spektakulär auf einem Felsen der stark zerklüfteten Westküste thront, was gute Fotos und eine wahrscheinliche Klippenwanderung verspricht. Ein Schild an der Straße beraubt mich aller Euphorie: „Castle closed until 31th of March“ steht da unmissverständlich ernüchternd! Ja, verdammt nochmal! Scheiß die Wand an! Hundert Kilometer umsonst! Erst die „Tate“ und jetzt das! Eigentlich wollte ich in Tintagel übernachten und von hier durch den Exmoor National Park nach Liverpool, aber plötzlich habe ich keine Lust mehr. Es ist im Nachhinein nicht zu verstehen, aber an diesem Schild auf dem Weg nach Tintagel ist die Luft raus! Nachdenklich und verschiedene Szenarien durchspielend, stehe ich in „Slaughter Bridge“ am Straßenrand. Jetzt täte ein Guinness gut, aber weit und breit ist kein Pub zu sehen. Samson hält gottseidank die Schnauze. Nur ein dummer Spruch und ich hätte ihn in diesem Moment auf einer der verschissenen Kuhweiden ausgesetzt, von denen es hier viele gibt! Aber dann kommt doch einer:
    „Aequam memento in arduis servare mentem“, nuschelt er und liefert wieder mal gleich die Übersetzung mit: „Denke daran, im Ungemach Gleichmut zu bewahren! Ist von Horaz.“ Ich will ihm gerade ein genervtes „Halt´s Maul!“ zurufen, erkenne aber doch in dem Gesagten etwas Tröstliches,  eine gewisse Empathie, die mich davon abhält, sein Zitat verbal in die Tonne zu treten.
     Nach fünf Minuten steht fest, dass ich die Tour abbreche. Liverpool hätte ich zwar gern noch gemacht, nachdem mir der letzte Besuch vor drei Jahren von meiner damaligen, reisebegleitenden  Lebensgefährtin versaut worden war, aber im Moment kann ich mir nicht vorstellen, 500 Kilometer nach Norden zu schrubben. Die nächstgrößere Stadt in Richtung Exeter ist Launceston. Dort hoffe ich, ein Bett zu finden.
     Im „White Hart Inn“, direkt am Marktplatz, werde ich fündig. ₤55,- kostet das durchgelegene Bett in einem Zimmer, das bei uns als Abstellraum dienen würde. Auch das riesige Hotel dürfte in Deutschland sicher nicht in dieser Form betrieben werden. Aber in Großbritannien gelten andere Maßstäbe. Hier hat Primitivität schon wieder Stil! Der Bau ist voll mit Handwerkern aller Nationen, die saufend und grölend die großzügige Bar bevölkern. Auch ein paar Schwaben sind darunter. Samson schweigt noch immer. Ich setze ihn wortlos auf die Fensterbank, damit er ein wenig dem Treiben auf dem mittlerweile dämmrigen Marktplatz zusehen kann und laufe zu einer Burgruine, die etwa hundert Meter vom Hotel entfernt liegt. Für anständige Fotos ist es leider schon zu dunkel und außerdem wächst der Bierzahn, was heißt, dass ein Guinness fällig ist. Ich trinke eins im „Westgate Inn“, aber weil ich dort allein an der Theke sitze, wechsele ich ins „Bell Inn“ in der Tower Street. Hier habe ich sofort nette Gesprächspartner, die mir Löcher in den Bauch fragen. Die Freude, sich mit einem Deutschen unterhalten zu können, scheint echt zu sein. Ein richtig netter Abend! Der Heimweg findet in einem kurzen Regenschauer statt, der dabei ist, in Schnee überzugehen. Aber ich habe vier Pints im Kopp und bin gegen alles immun!


6. Tag (Donnerstag)                                                                          Cadbury Castle / Bath

Die Handwerker im Hotel sind etwas unsensibel und trampeln mich auf den engen, tunnelähnlichen Gängen früh wach. Samson grunzt neben mir und weigert sich, endgültig aufzuwachen.
    „Come on“, rufe ich, „Stonehenge wartet! Get up, old boy!“
    „Stonehenge?“, murmelt er unter die Decke. „DAS Stonehenge?“
    „Ja klar“, antworte ich, „Weltkulturerbe und einer der bekanntesten Sehenswürdigkeiten der Welt!“
    „Geil, ey! Das will ich sehen!“ Er rappelt sich hoch. „Oder lässt du mich wieder im Auto?“
    „Nein, Stonehenge gönn´ ich dir! Muss man gesehen haben! Selbst du!“ Bevor er wegen der letzten beiden Worte wieder über mich herfallen kann, verlasse ich das Zimmer und gehe in den kahlen Frühstücksraum, der vor laut schwafelnden Handwerkern überquillt. Ich nehme das letzte freie Geschirrset von einem Sechsertisch, an dem schon fünf ungepflegt aussehende Blaumänner sitzen und verkrieche mich unter feindseligen Blicken wie die Raumsonde Voyager in die letzte Ecke des unendlichen Raumes. Der Sprache nach sind´s Polen und diese Sprache geht mir eh auf den Sack!
Alles Slawische ist nicht meins! Sind Polen Slawen?
     Samson war wieder eingepennt und ist nicht fertig, als ich ins Zimmer komme. Als wir endlich vom Hof reiten, ist es schon später Morgen. Launceston liegt direkt an der A30 und die fahren wir nach Osten in Richtung Exeter. Ein Schild hinter Okehampton mit Hinweis auf das berühmte „Castle Drogo“ lässt mich Richtung Bovey Tracey abbiegen, wieder nach Süden ins Dartmoor hinein. Nach ein paar Meilen geht´s in Sandypark links ab auf eine Straße, die eigentlich nicht als solche zu bezeichnen ist. Hucky passt gerade so zwischen die natursteinbewehrten Böschungen. Wie hier Busse fahren können, ist mir ein Rätsel und bleibt es auch, als mir prompt einer entgegenkommt. Ein Kleinbus zwar, aber immerhin. Der Fahrer ist eine Reinkarnation von Stirling Moss. Wir stehen uns Stoßstange an Stoßstange gegenüber, er lächelt, ich lächele und es ist klar, wer der Verlierer ist. Die ohnehin in dieser Situation nicht wirklich vorhandene Fröhlichkeit vergeht mir, als ich Hucky viele hundert Yards zurückschlängele, bis sich ein ganz schmaler Feldweg, ein winziges Nischelchen für ein Ausweichen anbietet. Stirling schiebt seinen Bus inchweise (1 Inch= 2,54 cm) an Hucky vorbei. Wenn er jetzt stecken bleibt, hilft nur noch beamen oder Hucky erleidet qualvolle Verletzungen. Aber es funktioniert. Irgendwie. Verkehrsmäßig funktioniert in England immer alles irgendwie. Es dauert, aber es klappt. Tiefes Durchatmen und ein kurzes Schwätzchen.
    „It´s always a challenge“, sagt Stirling. Nein, auf die Idee, ein paar Ausweichbuchten zu bauen, sei man noch nicht gekommen. Wahrscheinlich würden die Farmer dafür auch kein Land hergeben. Er wünscht mir eine gute Weiterfahrt. Ein netter Kerl! In Großbritannien bleibt Vieles so, wie es ist, solange noch Problemlösungen gefunden werden. Warum etwas ändern, wenn man klar kommt? Hier muss man Zeit haben und lernen, höflich und cool zu bleiben!
     Castle und Besucherzentrum sind noch geschlossen und öffnen erst in einer dreiviertel Stunde. Um 11:00 a.m. (a.m.=vormittags, p.m.= nachmittags). Das dauert mir zu lange und ich schaukele Hucky über den engen Straßenschlauch durch den nordöstlichen Teil des Dartmoor. Das Navi führt mich wie schon auf dem Hinweg südlich um Exeter herum, ein kurzes Stück Autobahn, dann biege ich wieder auf die A30 ab in Richtung Yeovil. Die A30 geht bei Yarcombe in die A303 über, die 150 Kilometer weiter nördlich an Stonehenge vorbei führt. So weit bin ich aber noch nicht. Hinter Speckford weist ein Schild auf „Cadbury Castle“ hin. Der Name sagt mir was und ich biege ab. Wie sich herausstellt, handelt es sich dabei um die nicht mehr sichtbaren Reste einer einst riesigen Burganlage aus der Eisenzeit (500 v.Chr.) auf einem Hügel (153 m). Nur der Ringwall ist noch verschiedentlich sichtbar. Viele vermuten hier das sagenumwobene „Camelot“ von King Arthur. Es ist nicht sonderlich spektakulär, aber wenn ich Geschichte unter den Füßen spüre, bin ich glücklich! Leider hat auch der ortsansässige Pub „The Camelot“ noch geschlossen, dessen Besitzer als Experte für die Anlage gilt.
     Samson pennt schon wieder, als ich Hucky aufschließe. Er blinzelt grunzend auf der Ablage und schläft gleich weiter. Das ist mir lieb, weil er so nicht mitbekommt, dass ich die Reiseroute ändere. Statt direkt nach Stonehenge fahre nach Bath, um mir die alten Römerbäder anzusehen. Samson wird meckern, wenn er die neue Planung mitbekommt. Er ist ganz geil auf Stonehenge, seit er mal eine Reportage im Fernsehen gesehen hat. Kurz vor Shepton Mallet wacht er auf und probt prompt den Aufstand, als ich ihm die neue Situation schildere. Nützt aber nix! Es ist auch nicht zu befürchten, dass er mich von hinten anspringt und mir ins Genick beißt. Hat ja keine Zähne! Grummelnd und brummelnd bleibt er auf seiner Ablage, als ich außerhalb des Stadtkerns parke. Im Ort selbst ist schwer ein Parkplatz zu finden. Das weiß ich von meinem letzten Besuch vor drei Jahren. Da war die Atmosphäre zwischen mir und meiner Reisebegleitung so angespannt, dass ich die Sehenswürdig-keiten nicht richtig genießen konnte. Das hole ich jetzt nach! Leider habe ich die Nikon in Hucky vergessen. Wieder mal! Ich werde alt! Sehr ärgerlich, aber der Weg zurück ist viel zu weit!
     Bath lohnt jeden Umweg! Und auch die 15 Pfund Eintritt für die Römerbäder und die heiße Quelle der Sulis (Minerva) sind gut angelegt! Der georgianische Baustil der Gebäude gibt der Stadt ein wohltuend interessantes, immer noch vornehmes Gesicht. Die „Pulteney Bridge“ mit den unterhalb gelegenen runden Wasserfallstufen gehört zu den schönsten Brücken der Welt. Wirklich klasse! Nach einem Cappuccino mit Scones im „Pump Room“ laufe ich in 15 Minuten zum „Royal Crescent“, einem riesigen halbrund bebautem Platz von 1767. Beeindruckend!
     Eigentlich wollte ich noch eine Bekannte besuchen, aber die wohnt im Süden der Stadt. Sie ist die Tochter eines deutschen Farmers, der ein Freund meines Vaters war und nach Beendigung der Kriegsgefangenschaft in England geblieben war. Ich hatte sie früher schon mal in „Henley on Thames“ besucht und in netter Erinnerung, aber jetzt suche ich mir doch lieber ein Bett. Die Besichtigung der römischen Anlagen und der Rundgang durch Bath haben Zeit gekostet. Ich kämpfe mich östlich auf die A36 und fahre südlich den Schildern Warminster nach in der Hoffnung auf eine Unterkunft im ländlichen Raum. Dazu fahre ich in die Dörfer und frage Passanten. In einem winzigen, nicht sonderlich sauberen Zimmerchen niste ich mich für ₤ 55,- ein. Ich verschweige den Ort und den Namen des B&B, um mir keine Klage einzuhandeln. Samson quengelt und will woanders hin, aber ich beschließe hierzubleiben und beruhige ihn mit der Aussicht auf Kuscheln beim Insbettgehen.
     Im Nachbarort habe ich beim Vorbeifahren ein Restaurant gesehen und laufe los, auf einem Zweikilometerweg an einem Flüsschen entlang. Der Spaziergang in der Abendsonne tut nochmal gut. Fish & Chips mit Erbsenpüree für preiswerte 11,- Pfund, zwei Pints Stout dazu. Zurück laufe ich unter einem klaren Sternenhimmel und erlöse Samson aus der Winzigkeit der Absteige. Die dunklen Äuglein strahlen mich dankbar an. Nach einem kurzen Weg durch das Dorf landen wir in einem Hotelpub. Mittlerweile bin ich abgehärtet und setze Samson ungerührt auf die Theke.
    „He´s not thirsty“, lächele ich die junge Dame hinter den Zapfhähnen an.
    „And for you, Sir?“, lächelt sie zurück und ich bestelle ein Guinness. Es dauert ein wenig, bis ich mit einem nach Farmer aussehendem Gast ins Gespräch komme. Nix besonderes, aber immerhin Unterhaltung. Woher, wohin und das unvermeidliche Wetterthema. Ja- Bath ist eine schöne Stadt und ob ich auch in Glastonbury war? Vor drei Jahren, sage ich. War überflüssig! Yes, lacht er, viel Mystik und Magic und Firlefanz. Keiner der Einheimischen glaube an die Geschichte vom Heiligen Gral. Nur die esoterischen Spinner. Aber dem Dorf selbst  gehe es sicherlich gut mit dem ganzen Rummel und den Festivals? Oh yes, sagt er, „very good!“ Noch ein Guinness. Keiner spricht mich auf Samson an, dem es hier sichtlich gefällt. Ich merke genau, wie er versucht, mit der Barkeeperin zu flirten, die ihn aber keines Blickes würdigt. Ich sehe, wie er seinen Augen eine strahlende Tiefgründigkeit gibt und immer zu ihr hin stiert. Ein kurzes, warnendes Ziehen an seinem dünnen Schwanz ändert nichts an seinen Absichten. Da muss ich deutlicher werden: tief graben sich meine Fingernägel in seinen rechten Hinterhuf, der schlaff über den Thekenrand baumelt. Samson tritt! Er keilt allen Ernstes hinten aus und versucht, mich zu treffen, die kleine Ratte! Er hat ja keine Kraft in seinem wabbeligen Hinterlauf, aber allein der Versuch ist schon strafbar! Das war´s! Endgültig, finally, definitive! Nix mehr mit Kuscheln heute Abend, geschweige denn mit Stonehenge!
     Da ich nach insgesamt vier Pints sowieso genug habe, quetsche ich mir den verhinderten Flirtfriedel ein wenig fester unter den Arm und laufe zurück zur Unterkunft. Von Samson ist kein Wort zu hören und ich sage auch nichts! Er liegt in einem abgeschabten Sessel, in den ich ihn achtlos geworfen habe und guckt mir ängstlich beim Zähneputzen zu.
    „Tut mir leid, Mann!“, höre ich. Und „Ich mach´s nie wieder!“ Jetzt strecke ich ihm drohend den Zeigefinger entgegen.
    „Damit wir uns richtig verstehen, mein Freund“, raunze ich bedeutungsschwanger, „Stonehenge kannst du dir unter dein ungewaschenes Zauselfell jubeln! Und weitere gemeinsame Urlaube sowieso!“
     Sofort fängt er an zu flennen. Kauert heulend in seinem Sessel und ist ein Häufchen Elend. Reines Selbstmitleid! Er weiß ganz genau, dass er eine Grenze überschritten hat, würde die Aktion natürlich gern rückgängig machen und hofft auf Milde und Gnade. Innerlich habe ich schon auf dem Heimweg vom Pub beschlossen, ihm Absolution zu erteilen, aber ich werde ihn noch zappeln lassen. Soll er ruhig noch ein bisschen über sich nachdenken! Was man liebt, muss man erziehen! Er bleibt auch im Sessel, während ich das Oberlicht etwas öffne und mich unter der festgespannten Brokatbettdecke ausstrecke. Ich knipse wortlos das Licht aus. Immerhin ist es warm in dem Zimmerchen.



7. Tag (Freitag)                                                           Stonehenge / Salisbury / Seaford

Dass er eine Scheißnacht hatte, sehe ich ihm an.
    „Hast du gut geschlafen?“, fragt er kleinlaut, während ich mich wasche. Er bekommt eine betont knappe Antwort und ich begebe mich über enge Stiegen und drei Feuertüren hinunter in den winzigen Frühstücksraum. Zum Glück bin ich allein. Ich beuge mich über ein lieblos hingeklatschtes Arrangement der üblichen Zutaten eines englischen Frühstücks, lasse den viel zu starken Kaffee stehen, hole die Klamotten samt Samson und flüchte. Ich bezahle immer schon am Abend vorher, damit ich morgens zu meinen Zeiten abhauen kann. Manchmal auch ohne Frühstück. Hier hätte ich es mir sparen können! Manche sollten vom Hotelgewerbe die Finger lassen! Dafür muss man geboren sein! Und dieser vierschrötige Idiot war es sicherlich nicht!
     Ab über die A36 nach Stonehenge. Mein letzter Besuch dieses Monuments datiert aus dem Jahr 1971, als man noch zwischen den Monolithen umher laufen konnte. Heute empfängt mich ein enormes Besucherzentrum mit einer modernen (gut gemachten) Ausstellung über die geschichtliche Entwicklung, Bauweise und Bedeutung und Shuttlebusse, die die Besuchermassen auf einer 2 km langen Trasse zu dem Highlight englischer Kulturgeschichte karren. Das alles ist sehr schlau gemacht: das Besucherzentrum wurde vor einen Hügel gesetzt, so dass man die Steine nicht sehen kann. Man kann hinlaufen (kostet nix) oder sich für 12,- Pfund fahren lassen. Ich wähle Variante zwei. Samson steckt im Rucksack und wird in der Enge des Busses schwer von den Canons und Minoltas der vielen Japaner gebeutelt. Jaja- schon gut! Ich hab´ mich wieder weichkochen lassen. Er hatte kein Wort gesagt, als ich mir den Rucksack von der Rückbank schnappte, aber sein Blick! Dieser flehende, stumm leidende Blick! Er ist eindeutig selbstmordgefährdet! Also schnappe ich ihn, murmele ein „ich bin zu gut für diese Welt“ in mich hinein und bin erleichtert ob dieser Entscheidung.
     Heute ist der Himmel bedeckt und Stonehenge präsentiert sich freudlos. Alles grau in grau. Graue Wiesen, graue Steine, grauer Himmel. Man wird im Kreis um das Weltkulturerbe herumgeführt und ist dabei nie allein. Die hohen Stimmen endlos schrabbelnder Japaner, gackernde und kreischende Schülerhorden, die überhaupt nicht interessiert, was ihnen erzählt wird und denen Stonehenge sichtlich am Arsch vorbei geht! Das Stonehenge von früher gibt es nicht mehr. Damals habe ich meinen Kopf an die Steine gelegt und habe Vergangenheit gespürt. Heute fehlt das Magische, Mystische, Metaphysische. Die Seele ist weg! Stonehenge beeindruckt nur noch durch die Bauleistung und das Alter von vier- bis fünftausend Jahren und da auch nur den, der sich damit beschäftigt.
     Es tut mir richtig weh, wie hier alles kommerzialisiert wurde. In der Nähe des „Heelstone“, der etwas abseits steht, setze ich mich ins trübnasse Gras, hole Samson aus dem Rucksack und erzähle ihm die Geschichte dieses grandiosen Monuments. Dabei werde ich lächelnd bis kichernd von vorbeiziehenden Touristen fotografiert, die sich über den alten Depp wundern, der mit einem Stoffesel im Gras sitzt und sich offensichtlich mit ihm unterhält. Macht nix! Immer noch besser als ständig mit dem Smartphone vor der Nase durch die Gegend zu laufen und keinen Blick mehr für´s Wesentliche zu haben! Wie ich kürzlich gehört habe, sollen Bodenampeln an Fußgängerüberwegen im Gespräch sein, damit die Smart- und I-Phoner nicht blindlings in den Verkehr rennen! Die Welt ist krank! Nee- nicht die Welt, der Mensch! Das könnte allerdings auch ein Aprilscherz gewesen sein.
     Also nochmal: es schmerzt zu sehen, was aus Stonehenge wurde! Mag ja sein, dass man den wachsenden Besucherströmen Rechnung tragen und diese in geregelte Bahnen zwängen muss, aber es schmeckt alles dumpf nach Kohlemachen um jeden Preis! Als ich wieder im Auto sitze, philosophiere ich einen Moment und reduziere mich auf Dankbarkeit für das Erleben von Stonehenge zu einer Zeit ohne massenhaftes Sightseeing. Das bringt mir Yin und Yang ins Gleichgewicht und ich schaffe es, ohne Groll nach Salisbury zu fahren.
     Dortselbst stelle ich Hucky auf einem Parkplatz an der Cranebridge Road ab und laufe über die Avon-Brücke ins Zentrum. Der Ort ist ganz witzig, die Kathedrale sehenswert. Im Stadtbild trifft man hier und dort auf mittelalterliche Ecken und Tudorhouses. Viele Geschäfte und Shops. Schlechte Fish & Chips am Marktplatz. Zurück laufe ich über einen Fußweg am Avon entlang und verlasse das Marktstädtchen in Richtung Southampton. Es stellt sich die Frage, ob ich bis Dover durchfahre und die nächste Fähre nehme oder noch einmal übernachte. Der Dauerstau des Nachmittags zwischen Portsmouth und Chichester nimmt mir die Entscheidung ab. Gegen 17:00 Uhr fahre ich nach Arundel rein und verplempere 45 Minuten mit der Suche nach einem Zimmer. Die sind hier auf der Hochschule und verlangen überall um die ₤ 80,- (100 Euro)! Keine Ahnung warum. So toll ist das Kaff jetzt auch wieder nicht trotz Castle und Cathedral. Also weiter! Die A27 erweist sich um diese Uhrzeit als zäher Lindwurm und es ist schon schweinespät, als ich mich für Seaford als Übernachtungsort entscheide. Es ist schon dunkel und ich bin ziemlich hilflos. Drei B&B´s, die ich anfahre, sind ausgebucht. Ein paar alte Ladies, die ich auf der Straße anspreche, sind auf dem Weg zu einem Bingo-Abend und bieten mir an, mitzukommen. Anschließend werde sich schon eine Übernachtungsmöglichkeit finden. Lautes Gekicher, aber herzlich und ehrlich gemeint. Ich danke höflich und bekomme durch einen Navi-Fehler geholfen: Der Tipp eines ausgebuchten Hotelwirtes führt mich irrtümlich zu einem Privathaus in einer abgelegenen Wohnsiedlung. Der ältere Bewohner und seine Frau - Mr. und Mrs. Paul Billings-  bitten mich sofort ins Haus, lächeln über meinen Irrtum und servieren Tee und Ingwerkekse. Ein Stadtplan wird ausgebreitet (20:00 Uhr!), der Hausherr zieht sich Schuhe und Mantel an und fährt labyrinthisch vor mir her, bis wir vor einem hochgelegenen Herrenhaus in der Chyngton Road halten. Verwinkelte Steinstufen führen zu einem eindrucksvollen Portal. Paul Billings klingelt und wir warten auf das Öffnen durch einen weißhaarigen Grandseigneur, der etwas unwillig wirkt. Die Herren wechseln ein unverständliches Gemurmel, ich verstehe nur „Yes, but not at this time“, nochmals Gemurmel und ich bekomme nach kurzem Dialog doch mein Zimmer.
     Bei allem, was immer über England gesagt und gelästert wird, gibt es folgendes festzuhalten: der Gentlemangedanke ist tief verwurzelt und die ältere Generation hat ihn quasi implantiert. Ich besitze ihn auch und bin jederzeit zur Hilfe bereit, aber in England sind die Hilfsgene weiter verbreitet als sonstwo auf der Welt! Nachdem sich Paul herzlich verabschiedet hat, erweist mir auch Oliver Cromwell (der heißt tatsächlich so!) seine Referenz und weist mir überaus freundlich einen kalten Raum im Obergeschoss zu, den er sofort mit einem programmierbaren Radiator bestückt. Er erklärt mir den Weg ins Zentrum („A short walk, a mile“), wo ich im „Wellington Pub“ meine drei Guinness trinke. Danach gehe ich über den „Causeway“ noch mal runter zu dem breiten Sandstrand, setze mich auf eine Mauer und lasse die letzten Tage Revue passieren: Obwohl ich mir wesentlich mehr vorgenommen hatte, habe ich tolle Tage erlebt. Fast durchgehend Sonnenschein, was die vielen Besuchspunkte (bis auf Stonehenge) natürlich enorm aufwertete! Nicht nur fotografisch! Überwiegend nette Menschen. Ein-, zwei Idioten, aber egal! Die gibt es überall! Sieben vollfette Wohlfühltage! Alles gut! Trotzdem wurschtele ich mich nachdenklich und mit ein klein wenig Einsamkeitsgefühl unter einem schönen Sternenhimmel durch unbekanntes Gelände zurück zur Unterkunft.


8. Tag  (Samstag)                 Seven Sisters / Long Man of Wilmington / Hastings / Brüssel

     An einem Tisch vor einem Panoramafenster mit Blick auf weite Wiesen ist ein perfektes Frühstück drapiert. Oliver setzt sich zu mir und hält mir einen gelehrten Vortrag über seinen Namensvetter, den ich bisher überwiegend als ein geschichtliches Arschloch wahrgenommen habe. Mr. Cromwell belehrt mich jedoch wortreich eines Besseren, wenn ich ihm das Loblied auf seinen Namensvetter auch nicht so richtig abnehme. Zum Abschied gibt er mir noch den Tipp, 2 Kilometer den Hügel hinaufzufahren, weil man von dort den besten Blick auf die „Seven Sisters“ hat, eine berühmte Klippenformation. Leider steht die Morgensonne genau gegenüber, so dass die Sicht in Verbindung mit Frühnebel schlecht ist. Aber ich genieße einen Spaziergang auf dem Kamm der Steilküste über dem heute ruhigen Meer.
     Mein nächstes Ziel ist „The Long Man of Wilmington“, ein 40 Meter hohes Hügelbild, etwa 5 km nördlich von Seaford. Leider habe ich hier das gleiche Problem und die Figur präsentiert sich vernebelt und diesig. Aber trotzdem beeindruckend! Auch Samson staunt. Auf meiner Fahrt nach Dover lege ich noch einen Kurzstopp in Hastings ein, decke mich in einem Supermarkt in Folkestone mit „Brown Sauce“, Sardellen und „Ginger Nuts“ ein. Auf dem Parkplatz führe ich ein nettes Gespräch mit einer jungen Frau, die sich köstlich über Samson amüsiert, der stoisch von der Ablage glotzt. In Dover habe ich das Glück, sofort eine Fähre zu erwischen, die mich in anderthalb Stunden nach Calais bringt.
     Nochmal in Brüssel beim Atomium vorbeizufahren, erweist sich als schlechte Idee. Es ist der Tag der Festnahme des islamischen Attentäters von Paris und die Ein- und Ausfallstraßen sind komplett zugestaut. Ich brauche von der Autobahnabfahrt zwei volle Stunden bis zum Brüsseler Wahrzeichen, bekomme aber tolle Fotos mit der sich spiegelnden Abendsonne in den silbernen Kugeln.
    „Na, siehst du, mein Freund“, sage ich zu Samson, als wir später bei Aachen über die deutsche Grenze fahren, das waren doch prima Tage, oder? Und wenn du nicht öfter mal rumgezickt hättest, wär´s noch schöner gewesen!“
    „Tut mir leid“, lässt sich Samson kläglich von hinten vernehmen. „Musste ja keinem erzählen!“
    „Doch, natürlich“, entgegne ich, „schließlich werde ich ja einen detaillierten Reisebericht schreiben und ins Netz stellen!“
     Wie immer hat mein Stofftier das letzte Wort:
    „Quis leget haec? Hat schon Lucilius um 150 v. Chr. gefragt!“
    „Und das heißt?“
    „Wer wird das Zeug lesen?“